interfiction -
Perspektiven und Mythen von Gegenöffentlichkeit in Datennetzen
Im Dezember 1995 findet das
12.
Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest statt.
Während dieses achttägigen Festes wird
traditionell ein großes Gewicht auf die
Präsentation von aktuellen Dokumentarfilmen und
Videos gelegt, die sich auf unterschiedliche Weise
politischen, sozialen oder künstlerischen
Problemfeldern nähern. Umrahmt wird dieses Fest
u.a. durch interdisziplinäre Experimente wie etwa
das letztjährige Projekt, das Bezüge zwischen
dekonstruktivistischer Theorie und aktueller Videokunst
herstellte.
In den siebziger Jahren
formulierten Autoren wie Hans Magnus Enzensberger und
Alexander Kluge Kritik am bisherigen Mediengebrauch.
Der Begriff Gegenöffentlichkeit stand für
einen Forderungskatalog nach Offenen Kanälen,
Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung. Die
politische Durchsetzung, aber auch ihre
künstlerische, medienkritische Begleitung wurde u.a.
zum Anliegen der Dokumentarfilm- und Videobewegung.
Derartige Ideen sind zwar partiell realisiert worden,
bleiben jedoch in der Medienlandschaft quantitativ
gesehen unbedeutend.
Unbemerkt von einem Großteil
der Öffentlichkeit hat sich eine weitaus
konsequentere emanzipatorische Struktur in den
Datennetzen entwickelt, gestützt von
'freenet'-
und 'Bürgernetz'-Initiativen,
ausgeweitet und popularisiert durch den Standard Internet.
Zusätzlich zu den klassischen Forderungen der
gegenöffentlichen Medientheorie entstehen durch
diese digitalelektronischen Netze neue
Möglichkeiten. Beispiele dafür sind die
globale Netzstruktur, eine ständige Präsenz
schriftlicher Informationen, funktionierende
Selbstverwaltung und nichtkommerzielle Distribution. Es
ist nicht verwunderlich, daß mit den ersten
Informationen, die über dieses
'Universalmedium'
kursierten, auch die Mythen einer gegenöffentlich
motivierten Mediennutzung wieder Diskussionsgegenstand
wurden.
Gegenöffentlichkeit ist
selber zum Mythos geworden. Die Vorstellung, daß
ein kritischer Umgang mit Medien zwangsläufig zu
einer Umgestaltung der Gesellschaft führt, ist
veraltet. Die Datennetze bieten jedoch einen neuen
Anlaß, diesen Mythos konstruktiv zu verwenden.
Netzprojekte versuchen, fasziniert durch die Potentiale
des Netzes, die mythischen Dimensionen der
elektronischen Struktur zu aktualisieren. Schlagworte
dazu sind Globalisierung, Demokratisierung und freier
Zugang zu Informationen.
So ist es innerhalb des Internets
beispielsweise möglich, unmittelbar auf das
gesamte Datenmaterial zuzugreifen. Da in der 'realen'
Welt jedoch keine globale Verbreitung von
Rechnern gegeben ist, ist das Internet kein wirklich
globales Netz. Das Schlagwort Demokratisierung ist
ähnlich skeptisch zu betrachten. Immer
wahrscheinlicher wird es, daß die neuen
Kommunikationstechnologien einfach um die alten
Strukturen ranken, diesen zwar partiell neue
Möglichkeiten schaffen, wobei deren Organisation
aber unbeschadet bestehen bleibt. Es gibt also einen
neuen 'Mythos Gegenöffentlichkeit' in Datennetzen,
der einen grundlegend ambivalenten Charakter hat. Die
Welt wird keineswegs automatisch zu einem globalen
Dorf. Genausowenig wird die Datenvernetzung zu einer
automatischen Demokratisierung führen. Die
netzspezifischen Mythen werden aber für die
Netzprojekte zu einem Anhaltspunkt, wenn es um konkrete
Umgangsweisen und Strategien in Datennetzen geht. Dies
ist genau der Punkt, den interfiction bearbeiten
will.
Auf dem 12. Kasseler
Dokumentarfilm- und Videofest soll ein möglichst
breites Spektrum von Initiativen vorgestellt werden,
die in den Bereichen Kunst/Kultur, Stadt,
Universität und Journalistik arbeiten, und sowohl
Internet/WWW als auch Mailbox-Systeme benutzen. Anhand
von konkreten 'Vernetzungs'-Erfahrungen in den
spezifischen Bereichen können dann einerseits
technische, organisatorische und konzeptuelle Aspekte
präsentiert werden, andererseits auch, als
wichtigster Teil, die jeweilige Arbeit vor dem Horizont
der netzspezifischen Perspektiven und mythischen
Potentiale herausgearbeitet werden. So kann versucht werden,
Konzepte und Erfahrungen zu sammeln, die einen
sinnvollen Umgang mit den Datennetzen aufzeigen
können. Trotz der Unruhe, die das exponentielle
Wachstum der Netze auslöst, könnten die schon
erreichten Erfolge beschrieben werden, und
mögliche Forderungen nach einem effizienten
Eingreifen in die 'Revolution der Informationsmedien'
legitimiert werden.
Durch die Vorgabe verschiedener
Fragenkomplexe an beteiligte Initiativen und Projekte
wird interfiction versuchen, auf systematische
Art und Weise mit den Effekten und Potentialen der
Netznutzung umzugehen. Als Grundlage, sowohl der
kritischen Eigenbewertung der jeweiligen Projekte, als
auch zur Strukturierung der Diskussion über das
Netz, sollen die folgenden vier Punkte dienen.
Netzpotentiale beschreiben Möglichkeiten,
die mit der Struktur der Datennetze und deren Anwendung
verbunden sind. Dazu gehören Globalisierung,
Dezentralisierung, Dehierarchisierung,
Destandardisierung, multimediale Kommunikation, 'public
access', nichtkommerzielle Distribution, 'virtual
community', kollektive Formen und Flexibilität der
Software.
Netzeffekte. Hier sollen mögliche
Auswirkungen auf bereits bestehende Institutionen,
Hierachien und Grenzen beschrieben werden. Hierzu
gehören vier Unterpunkte: Netze als neue
Institutionsumwelt, umfeldbezogene
Vernetzungswirkungen, systeminterne Dehierarchisierung,
private integrative Potentiale des Netzes.
Netzexperimente. Experimente innerhalb von
Datennetzen können in vielen Bereichen
durchgeführt werden. Ziel von interfiction
ist es, Bereiche konstruktiver Netzanwendung
abzustecken. Beispiele hierfür sind Stadt-/Regionalnetz,
soziale Architekturen, Medien/Politik/Information und Kunst.
Netzambivalenzen. Die auf den ersten Blick
emanzipatorischen Möglichkeiten der Netze sind mit
einem spezifischen 'Fluch' behaftet. Die neuen
Strukturen haben z.B. bezogen auf Überwachung und
Demokratisierung Auswirkungen, die kontrovers
diskutierbar sind.
Im Zentrum von interfiction
steht ein zweitägiges Seminar. Im Unterschied zu
herkömmlichen Festivals, die meist aus einer
Abfolge von Vorträgen und einer
abschließenden Diskussion bestehen, soll durch
die Seminarform eine ausführlichere und
intensivere Auseinandersetzung ermöglicht werden.
Um genügend
Zeit zur Diskussion zu haben, sollen Informationen
über die Projekte schon vor dem Dokumentarfilm-
und Videofest im WWW zur Verfügung stehen.
Weiterhin werden die Stellungnahmen der eingeladene
Projekte zu dem vorgegebenen Fragenkatalog im Netz
plaziert. Diese Informationen können also bereits
vor der Diskussion abgefragt werden. Während des
Dokumentarfilm- und Videofestes stehen vor Ort sechs
Rechner mit Internet-Anschluß zur Verfügung,
die von Assistenten betreut werden. Der
organisatorische Ablauf von interfiction besteht
aus den folgenden fünf Teilen.
Vorstellung der Arbeit. Projekte, die sich mit
Aufbau von Datennetzstrukturen befassen, stellen ihre
Arbeit vor (Stadtnetz, Kunstnetze,
Universitätsnetze, Mailboxen). Konzepte, aber auch
technische, organisatorische und finanzielle Aspekte
sollen im Netz präsentiert werden.
Perspektiven und Mythen. Die Projekte stellen
ihre Erfahrungen hinsichtlich der Fragenkomplexe
Netzpotentiale, Netzeffekte, Netzexperimente und
Netzambivalenzen dar. So können sie ihre Arbeit
sowohl legitimieren, als auch kritisch, bezogen auf
Strategie und Effizienz reflektieren.
Diskussion im Netz. Ein Austausch zwischen den
an interfiction Beteiligten soll schon im
Vorfeld stattfinden. Geplant ist ein Diskussionsforum,
in dem auch spezielle Problemstellungen geklärt
werden können.
Seminar. Eine kurze Vorstellung der Projekte und
eine anschließende Diskussion findet am 9. und
10. Dezember in Form eines zweitägigen Seminars
statt. Geplant ist ein Seminar mit festem
Teilnehmerkreis. Zusätzlich zum Seminar werden
Vorträge zu hören sein.
Dokumentation. Projektpräsentation und
Diskussionsergebnisse werden voraussichtlich auf CD-ROM
zugänglich sein. Weiterhin könnte sich durch
interfiction eine Diskussionsstruktur
etablieren, die über das Dokumentarfilm- und
Videofest hinaus eine Plattform zum Erfahrungsaustauch
bietet.
ifiction@hrz.uni-kassel.de <interfiction> August 1995
siehe auch
Theorie
- Perspektiven und Mythen von Gegenöffentlichkeit in Datennetzen
Überlegungen zur theoretischen Fundierung des interdisziplinären Projekts 'interfiction' [Uwe Hermanns]