Seit über zehn Jahren widmen sich der Amsterdamer Medientheoretiker Geert Lovink und seine Agentur BILWET (Bevordering van de ILlegalen WETenschap, das heißt: Beförderung der illegalen Wissenschaft) den Möglichkeiten und Risiken der Computermedien. 1993 initiierte er PRESS NOW, eine Kampagne zur Unterstützung unabhängiger Medien im ehemaligen Jugoslawien, 1994 gründete er mit der Digitalen Stadt Amsterdam eine der ersten "Städte" im Internet. David Link und Leander Scholz unterhielten sich mit ihm über Computer als Spielzeug und Waffe, den Kampf um die Unabhängigkeit des Internet und Unbekannte Theorieobjekte.
NZZ: Könntest Du kurz etwas zur Geschichte der Agentur BILWET erzählen?
Lovink: Gegründet wurde BILWET 1983 von Basjan van Stam. Wenig später stießen einige andere Leute dazu, unter anderem auch ich, und seit 1985 sind wir zu fünft: Arjen Mulder, Lex Wouterloot, Ger Peeters, Basjan und ich. Wir sind eine lose Assoziation, kein Kollektiv. Anfangs haben wir Film- und Psychoanalyse gemacht. Im Berliner Merve-Verlag erschien damals die Zeitschrift TUMULT mit dem Untertitel Verkehrswissenschaft. Das hat uns sehr inspiriert. Wir haben Verkehr in der Folge sehr buchstäblich aufgefaßt und uns viel mit der Autobahn, also mit dem tatsächlichen Verkehr beschäftigt, aber auch mit Sex als Verkehr zwischen den Geschlechtern. Die Texte von Klaus Theweleit waren für uns in dieser Phase sehr entscheidend. Dann, mit dem Aufkommen der Datenautobahn, wurde eine neue Verkehrswissenschaft notwendig, eine Form von ambulanter Wissenschaft. Wir stellen keine Thesen auf oder arbeiten an einem geschlossenen Werk, sondern produzieren zunächst fiktive Konzepte, die irgendwann auf die Realität stoßen. Diese Konzepte nennen wir UTOs (Unbekannte Theorie-Objekte). Die UTOs lösen etwas aus oder nicht, das hängt nicht von uns ab, sondern ist allein eine Frage der sozialen Dynamik. In Deutschland versucht man oft, uns mit unseren UTOs wieder in die Autorschaft zu zwingen. Aber es gibt keinen Autor. Wir schreiben unsere Texte meist zu zweit und bilden dann so etwas wie ein third mind, d. h. wir produzieren zusammen etwas ganz anderes als jeder für sich. Das Medienverfahren der Agentur BILWET geht weit über meinen Horizont hinaus. Die Texte sind Gedankenexperimente, aus denen jeder von uns seine eigenen Schlüsse zieht.
N: Und wie läuft dieser gemeinsame Schreibprozeß konkret ab?
L: Wir setzen uns zu zweit oder zu mehreren zusammen und schreiben etwas. Wenn es fertig ist, wird es kaum noch überarbeitet. Wir machen den Zufallsgenerator an, der auf ein bestimmtes Reizwort anspringt und so die Gedanken strukturiert. Bisher haben wir immer sehr intensive Texte geschrieben und keine großen Forschungsarbeiten, da das Format für diese Art von Texten nicht geeignet ist. Wir sind kein Teil der akademischen Diskursfabrik. Wir arbeiten außerhalb dieser Institutionen. Im Unterschied zu den akademischen Medientheoretikern sind wir von der fröhlichen, von der hedonistischen Fraktion Amsterdam, das ist vielleicht unser touristisches Schicksal. Wir sind nicht so furchtbar skeptisch den Medien gegenüber. Dennoch möchten wir ihre Macht nicht nur im objektiven, sondern vor allem im subjektiven Bereich relativieren. Wir denken, daß diese Form von Lebenswelt die Leute nicht komplett beherrschen sollte. Medien sind für uns Spielzeug, das man auch wieder in die Ecke stellen kann. Die akademische Medientheorie ist dazu nicht in der Lage, weil sie ihr eigenes Objekt viel zu ernst nimmt. Medientheorie ist ja im Grunde kommerziell. Im Gegensatz zu Deutschland sind communication studies beispielsweise in den angelsächsischen Ländern sehr marktbezogen ausgerichtet. Der Hauptzweig der Medientheorie ist der, wo das Rätsel Publikum gelöst werden soll. Sie gehört zum Designbereich, ist schon Teil des Medienbetriebs. Medientheorie, die sich eher aus den Bereichen Philosophie und Literaturwissenschaft speist, ist eher ein deutsches Phänomen und deswegen auch einmalig als touristisches Produkt zu verkaufen. Fangt endlich damit an!
N: Gerade hast Du die Medien als Spielzeug bezeichnet. Auf der anderen Seite engagierst Du Dich sehr ernsthaft in verschiedenen Medienprojekten. Anfang 1994 hast Du mit der Digitale Stad Amsterdam eine der ersten digitalen Städte aufgebaut. Innerhalb dieses Projektes setzt Ihr Euch für die Einrichtung von öffentlichen Internet-Terminals ein. Auch wenn Du innerhalb der Press Now-Initiative für die Unterstützung unabhängiger Medien in Ex-Jugoslawien kämpfst, begreifst Du das Ganze nicht mehr als ein Spielzeug.
L: Nein, dann eher als Waffe. Aber auch diese Metapher ist gefährlich. Dann benutzen wir das Medium nämlich naiv und im klassischen Sinne, ohne uns zu fragen, was wir da benutzen. Man muß die immanenten Eigenschaften dieser Medien sehr genau studieren. Das hat die Generation vor uns nicht gemacht, obwohl sie sie sehr ernst genommen hat. Sie hat die Medien entweder naiv als Waffe benutzt oder pauschal als Kulturindustrie abgelehnt. Es gibt aber medienimmanente Eigenschaften, die man genießen und deren Verführung man kennen sollte. Wenn man beispielsweise die militärische Herkunft dieser Medien nicht kennt, oder das Verführerische an anderen Kulturpatterns, weiß man nicht, was man mit ihnen anfangen kann.
N: Könntest Du kurz etwas über die PRESS NOW-Kampagne erzählen?
L: In Jugoslawien haben die Medien um 1989/90 bei der Ausnutzung der ökonomischen Krise für nationale und ethnische Zwecke sowie bei der Aufhetzung der Bevölkerung eine entscheidende Rolle gespielt. Es gab dort keine Fernsehrevolution wie in Rumänien, keine Demokratisierung der Medien, sondern eine ungeheure Machtkonzentration. Und da die demokratische Opposition der Zamistat (die jugoslawische Underground-Literatur) noch nicht weit genug gewachsen war, gab es kaum Mittel, dagegen anzugehen. Piratensender und die wenigen freien Zeitungen waren die einzigen Anfänge einer demokratischen Kultur von unten. Deshalb haben wir 1993 PRESS NOW gegründet, eine Kampagne zur Unterstützung unabhängiger Medien im ehemaligen Jugoslawien, die sehr erfolgreich war. Unsere Forderungen waren minimal, Grundprinzipien einer medienorientierten Gesellschaft, um manipulative Tendenzen auf Dauer zu verhindern. Eine unserer Haupthoffnungen war dabei Zamir, das Computernetz der Antikriegsbewegung. Mittlerweile läuft die Kampagne europaweit und wir unterstützen dieses Netz, Wochenzeitungen und verschiedene andere Medien.
N: Kurze Zeit später wurde De Digitale Stad gegründet. Was interessiert Dich an diesem Einsatz von Medien?
L: Es geht uns um eine bestimmte Verortung, eine Verbindung von Menschen in einer lokalen Kultur. Das ist der Sinn der Metapher Stadt. Wir glauben, daß es keinen Sinn macht, sich an einer globalen Kultur zu beteiligen. Wir möchten unsere eigenen Subsysteme aufbauen und die müssen nicht nur auf Holländisch sein. Wir wünschen uns größtmöglichen Reichtum und Vielfalt. Deshalb setzen wir uns auch sehr dafür ein, daß beispielsweise in Kneipen oder Bibliotheken öffentliche Terminals eingerichtet werden. Nicht jeder muß einen Computer besitzen. Mittlerweile hat die Digitale Stad über 50.000 Einwohner und das Wichtigste ist für uns die Kommunikation zwischen ihnen. Wir sind - im Unterschied zu vielen anderen Projekten, die hauptsächlich Informationen anbieten - keine bloße Ansammlung von web-Seiten. Die Beteiligung des Einzelnen ist uns wichtig, und deshalb hat das Ganze auch eine Eigendynamik bekommen, die weit über das ursprüngliche Projekt hinausgeht. Wir stellen nur einen bestimmten Rahmen, eine Infrastruktur zur Verfügung. Wie die Bewohner sich dann treffen, kommunizieren oder Spiele spielen, ist ihre Sache. Die Bürger können die Stadt selbst mitgestalten.
N: Und wer kontrolliert diese Struktur? Gibt es einen Bürgermeister?
L: Nein. Wir müssen ohnehin wegkommen von einer Betrachtung, die die Struktur von realen Städten eins zu eins auf digitale Städte überträgt. Es gibt keine Entscheidungsgremien. Möglichst viele sollen die Stadt mitgestalten.
N: Aber das heißt doch, daß die Entscheidungsträger letztenendes die Technokraten sind.
L: So ist es. Wenn wir die Maschinen ausschalten, geht nichts mehr. Eigentlich müssten deshalb alle Technokraten werden. Damit möglichst wenige zentrale Organe entstehen, die über das Ganze entscheiden, muss die Vernetzung im realen Raum weiter vorangetrieben werden. Compuserve ist beispielsweise ein sehr zentralistisches System. Viele Leute müßten endlich verstehen, daß im Netz nach wie vor viele verschiedene Modelle nebeneinander existieren. Es gibt hierarchische Netze, wo man sich zwar als guter Kunde fühlt, aber auch von der Zentrale zensiert werden kann. Das heißt, eigentlich handelt es sich nicht einmal um Zensur, sondern man kauft sich - wie bei einer Zeitung - ein Produkt, und wenn man nicht damit einverstanden ist, kauft man ein anderes. Bei dezentralen Netzen hingegen funktionieren andere Logiken. Man bemüht sich eher zu deregulieren.
N: Führt diese Deregulation - jeder kann veröffentlichen, was er will, ohne daß so etwas wie ein Lektor die Dokumente gegenliest und eventuell korrigiert - im Moment nicht auch dazu, daß ziemlich viel Schrott im Internet herumliegt?
L: Bis jetzt ja. Aber das wird verschwinden, sobald der Markt voll ins Internet eingedrungen ist. Was wir im Moment erleben, ist nur der kurze Sommer des Internet. Es werden Lektorate kommen und die Industrie wird das Ganze übernehmen. Die Zeit des naiven Utopismus ist vorbei. Jetzt dringt die Realpolitik ein. Natürlich ist das Internet noch immer ein neues Medium, ein Raum, den man offenhalten muß. Es gab Versuche, das Internet bei den Vereinten Nationen als Land anzumelden und John-Perry Barlow hat beispielsweise kürzlich eine Unabhängigkeitserklärung des Internet verfaßt. Aber viele glauben, daß dort etwas vollkommen Anderes passiert als in der realen Welt oder in anderen Medien. Man darf die Macht der Nationalstaaten und die Mechanismen des Marktes nicht unterschätzen. Viele hoffen, daß die Zeit des Staates vorbei ist und die internationalen Konzerne diese Tendenz noch unterstützen. Ich bin da eher skeptisch. Ich möchte eine realistische Analyse des Feindes machen. Mir ist Anarchie lieber als Zensur. Ich bin der Meinung, daß dem Staat die Verfügungsgewalt über die Medien abgenommen werden muß und zwar konsequent. Die Rolle des Radios im Faschismus, oder die komplette Kontrolle und Manipulation der Medien im Ostblock zeigen doch sehr deutlich, was diese Verfügungsgewalt bedeutet. Und ähnliche Verhältnisse herrschen noch in sehr vielen Ländern dieser Welt. Ich glaube, daß die Demokratisierung der Medien dringend notwendig ist, und wenn dabei tatsächlich nur Schrott herauskommen sollte, bevorzuge ich persönlich Schrott vor Staatskontrolle. Die Demokratisierung oder meinetwegen die Verschrottung der Medien muß weiter vorangetrieben werden, damit Leute, die sich ihrer totalitär bedienen wollen, sie nie wieder in die Hand bekommen. Es ist vielleicht eine naive Vorstellung, aber ich glaube an eine antifaschistische Medienpraxis. Die können wir mit und im Internet konsequent vorantreiben.
N: Und welche Möglichkeiten der Gegenwehr gibt es konkret?
L: Es wird Subnetze geben und eine Wiederkehr der Hacker. Im Moment beschäftigen sich viele von ihnen mit Agenten - Programmen, die für den Anwender im Internet gezielt Informationen suchen, oder mit trash generators, die Dokumente im Netz vervielfältigen und neu zusammenbauen. Aber die Hacker, die jetzt das Netz aufbauen, werden bald von der zunehmenden Kommerzialisierung aus diesem Paradies vertrieben. Statt dem digitalen Konstruktivismus, der im Moment vorherrscht, werden sie dann an den Rändern ihre Viruskanonen aufmachen und das Netz wieder in Chaos versetzen. Aber es gibt auch andere Konzepte, beispielsweise wandering websites. Das sind Seiten im Internet, die nicht mehr lokal zu verorten sind. Faktisch werden ja jetzt, um eine WebSite zu verhindern, die Rechner von der Polizei beschlagnahmt. Und das widerspricht ganz der Erwartung der naiven Utopisten, die dachten, der Cyberspace sei nicht mehr zu verorten. Aber Cyberspace wird in Maschinen gelagert. In Finnland beispielsweise sind die anonymous remailers, die im Frühjahr 1994 an verschiedenen Stellen auftauchten und es erlaubten, E-mails anonym zu verschicken, im Keim erstickt worden. Die Polizei kam vorbei und beschlagnahmte die Maschinen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, daß der Nationalstaat siegen kann, wenn er herausgefordert wird. Es wird noch viele Beispiele geben. Jetzt, wo der Internet-Hype langsam vorbei ist, wird das Internet wieder richtig spannend.
N: Deiner Meinung nach muß also jetzt eine neue Cyber-Avantgarde entstehen, um diese Zensur zu verhindern?
L: Ich sage ungern Zensur, um die wirkliche Zensur nicht zu verharmlosen. Über Zensur kann man in der Londoner Zeitschrift Index on Censorship nachlesen, wo es um den richtigen Kampf geht. Was im Internet passiert, ist geordnete Kommunikation. Das neue Medium hat nicht, wie erwartet, zu einem Paradigmenwechsel geführt. Leider. Und diese Fragen sind für ungeheuer viele Leute wichtig, weil ihr Leben damit zusammenhängt, nicht im existentiellen Sinne, aber im Rahmen der Sinngebung und der Steuerung von Tätigkeiten und Gedanken. Uns stellt sich heute die Medienfrage, so wie sich Ende des 19. Jahrhunderts die soziale Frage gestellt hat. Ich hoffe, daß wir darauf eines Tages eine Antwort geben können. Auch bei der Agentur BILWET fragen wir uns oft, ob es eine Welt nach den Medien gibt. Oder ob wir nur noch weiter in die Welt der Bilder und der Digitalität hineinklettern können. Ich glaube nicht, daß die Welt durch eine perfekte Simulation ersetzt werden kann, nicht einmal, daß die Ökonomie in Zukunft durch digitale Informationen gesteuert wird. Für mich ist es eine totalitäre Denkweise, dermaßen von den Medien besessen zu sein, daß man glaubt, diese Medien seien das Ganze. Das Ganze ist immer noch das Unwahre. Bei Medientheoretikern wie Flusser gibt es keine Welt nach den Medien, keinen Seitenausgang. Diese Menschen scheinen nicht spazierenzugehen. Das stört mich, denn wir müssen zwar dieses abgeschlossene Universum der Bilder erforschen, um uns darin zu orientieren, aber ich glaube nicht, daß es die Welt beherrschen wird. Und wenn dem sowäre, dann müßte man sich möglichst bald dagegen wehren, weil die Digitalität doch nur ein ganz dünner Abklatsch von dem ist, was das Leben einfach beinhaltet.
Geert Lovink, Medientheoretiker und Mitglied der Agentur BILWET (Bevordering van de ILlegalen WETenschap (Beförderung der illegalen Wissenschaft), lebt und arbeitet in Amsterdam und Budapest. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Draculaland Rumänien, unabhängige Medien im ehemaligen Jugoslawien, der touristische Blick, Datendandyismus, Medienökologie. Veröffentlichungen der Agentur BILWET: Bewegungslehre (Berlin 1991), Das Medienarchiv (Düsseldorf 1993), Der Datendandy (Mannheim 1994).
Projekte im Internet:
De Digitale Stad: http://www.dds.nl
Agentur Bilwet: http://thing.desk.nl/bilwet
Netzkritik: http://www.desk.nl/~nettime