Unser ganzes Leben lang denken wir, tausende und abertausende von Stunden lang. Heraus kommt dabei herzlich wenig. Das liegt daran, daß unsere Gedanken von einer Sache zur anderen wandern, abreißen und woanders wieder ansetzen, abgelenkt werden von Wahrnehmungen und, so schrieb ein Dichter, vorbeifliehen wie nächtliche Schatten. Greifbare Ergebnisse gibt es, relativ zum Zeitaufwand, kaum, aber der Unterhaltungswert des Denkens ist unbestritten. Unbestritten ist auch der Unterhaltungswert des Surfens im Netz, das, verfolgt man seine Wege zurück, eine genaue Abbildung unseres alltäglichen Denkens liefert. Beschrieb Niklas Luhmann das Denken als einen Prozeß, der immer das nächste Ereignis nach sich zieht, so kann man dieses Bild übertragen auf das Internet, das so komplex verknüpft ist, daß immer der nächste Click möglich ist.
Hochgelobt wird die Freiheit, den eigenen Weg erst herzustellen, ob das so ein großer Gewinn ist, ist fraglich: es ist kaum mehr ein Gewinn als die endlose assoziative Litanei des alltäglichen Denkens. Erst wenn eine Web Page in der Lage ist, uns festzuhalten, beginnt die Möglichkeit, sich in etwas Fremdes zu vertiefen und nicht nur die wohlbekannte Struktur zu reproduzieren, bei der egal ist, ob sie sich aus der Bildzeitung speist oder aus elektronischen Netzen, so abwechslungsreich das auch sein mag. Nicht daß ich mißverstanden werde: ich frage erst dann, was das Surfen im Netz bringt, wenn Medientheoretiker behaupten, daß es generell etwas bringt, was über die Unterhaltung hinausgeht. Unter welchen Umständen das der Fall ist, ist weniger abhängig von der angeblich neuen Selbstgestaltung des Prozesses als vom Ideenreichtum, wonach man eigentlich mal suchen könnte (Suchmaschinen erleichtern das), oder ob man sich, worauf man zufällig stieß, nicht mal genauer angucken könnte.
Strukturierung und kreative Aneignung sind also auf dem Netz nicht weniger oder mehr gefragt als in unserer übrigen Umgebung, genauso wie die Fähigkeit, bei der Sache zu bleiben. Sicher wird dadurch die Neuigkeit von Netzen relativiert, aber ich frage mich schon längst, was gegen eine Relativierung einzuwenden ist. Es bedeutet doch keinen Wertverlust, die Abgrenzung eines Phänomens von allen anderen Dingen aufzugeben und Gemeinsamkeiten festzustellen, z.B. zur Buchkultur. Jeder kann ein Buch aufschlagen, wo er will, kann es gebannt durchlesen oder zur Seite legen und zum nächsten greifen. Der Gebrauch von Dingen war schon immer offener als die womöglichen Intentionen derer, die sie geschaffen haben. Manchmal deckte sich beides, wie bei Deleuze/Guattari, die den Anspruch, ihnen von Anfang bis Ende zu folgen, aufgaben. Aber auch sie haben beim Schreiben ihrer Bücher ein Wort hinter das vorige gesetzt, und so ist auch eine Web Site konstruiert, und denen, die sie hergestellt haben, wird es wohl eher gefallen, wenn sich jemand in ihrem kleinen Netz länger aufhält oder es sogar systematisch abklappert als wenn er/sie nur den nächsten link sucht, um möglichst schnell woanders hinzukommen. Jedoch gehört auch das Verweisen zur Zitierkultur und jeder, der durch Querverweise auf einen seltenen, vom mainstream unbeachteten Aufsatz gestoßen ist, kennt diese Erfahrung längst.
Ich vermute die Abneigung gegen Bücher woanders als in der angeblichen Beschränktheit ihres Gebrauchs. Deleuze hatte, wie er schrieb, vielmehr das Gefühl, "von der Geschichte erschlagen zu werden" - "du darfst nicht wagen, in deinem Namen zu sprechen, wenn du nicht das und das gelesen hast" - Man sollte diese Forderung nach Wissen jedoch trennen von der Tatsache, daß es in Form von zusammengebundenen Seiten festgehalten ist, auch wenn das Wort "Pflichtlektüre" nur in der Schriftkultur existiert. Wissensanhäufung ist nicht etwas, was abhängt vom Medium, in der sie stattfindet. "Wie, diesen Film hast du nicht gesehen, diese Platte kennst du nicht?" sind Fragen, die in anderen Bereichen, nicht den universitären, in denen Deleuze sich bewegt, oft auftauchen. Ob sich geschriebenes Wissen auch durch seinen begrifflichen Apparat (aber auch seiner Poesie) von anderem, bildhaften z.B., unterscheidet, ob seine Struktur eine Herrschaftsgeste impliziert und all diese Dinge, ist zwar interessant, hat aber mit dem Thema Hypertext keine Tangente.
BACK
jung-b@hrz.uni-kassel.de