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11-7-96
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Prof. George P. Landows Hypertexttheorie - 32 Textblöcke
von Matze Schmidt
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Lexia: Terminus von Roland Barthes, wahrscheinlich in Anlehnung an griech. léxis "Rede, Wort". Bezeichnet die Grundeinheit eines Hypertextes, den Textblock, Absatz.
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mainframe - Großrechner, Universalrechner. Bezeichnet ursprünglich die Zentraleinheit eines Computers. Heute bezieht man den Begriff gerne auf einen Großcomputer als gedachte, abgeschlossene Einheit, um eine Abgrenzung von anschließbaren peripheren Einheiten oder zurüstbaren Systemteilen vorzunehmen.
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Um sich darüber klar zu werden, was Nichtlinearität bezogen auf Linearität bedeuten könnte, müßte mensch einen absolut linearen Text verfassen. Absolut linear zu schreiben, ist jedoch unmöglich, da egal welches Medium zur Produktion einer rezipierbaren Entität benutzt wird, dieses Medium immer über in sich selbst andeutende Verweise extrapoliert werden kann. Ein Text ist immer schon Konnex eines Konnexes. Auch innerhalb einer hierarchischen Abfolge kann gesprungen werden, sofern diese gespeichert ist. Ohne Speicherung und Zugriffsmöglichkeiten seitens des Lesers, wäre dies nicht möglich! Jedes Lesen setzt aber Speicherung voraus, ist
a priori ein Zugriff auf den Text, da Konnotationen einzelner im Text vorhandener Wörter immer vom "Speicher" des Lesers (Morpheme, Buchstaben, Wörter, Texte, Sprechsprache) ausgehen und nicht vom Wort, da dieses zwar Speichermedium (Zeichen, Signifikat), aber nicht selbst Bedeutungszuweiser (Leser, Autor) und nicht Bezeichnetes (Signifikant) ist.
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Die Charakteristika des Mediums Hypertext:, Multivokalität, Offenes-Ende, multilineare Organisation, größere Einbindung nichttextueller Information, fundamentale Neukonfiguration der Autorenschaft einschließlich der Frage des Eigentums, Multidisziplinarität, nichthierarchisches Denken.
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Ein früher Versuch ein hypertextuelles Systems zu erstellen war Apple’s Daten-manager HyperCard 1.0, basierend auf der Kartenmetapher. Dabei mußte der Text auf den engen Bereich einer Karte passen, ohne Bildlaufleiste. HyperCard 1.0. zeigte immer nur eine Karte und baute auf unidirektionalen Links zwischen einzelnen Karten. Es war nicht für den Netzwerkgebrauch ausgelegt.
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Hypertext sollte nicht allein über die Begrifflichkeiten von HyperCard betrachtet werden.
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Man stößt auf zwei Vorbehalte elektronischen Texten gegenüber: "Man kann ein elektronisches Buch nicht in der Badewanne lesen" und "Wie kann man das Lesen eines Textes vom Bildschirm mit der Erfahrung vergleichen, eine ledergebundene Buchausgabe zu lesen?" Das Lesen am Computer nimmt das Vergnügen der Begegnung mit dem physischen Objekt."
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Das Chasarische Wörterbuch, ein Lexikonroman, ist eine lexikalisch angelegte Geschichte, deren Verlauf nicht vom Autor vorgegeben ist, sondern sich aus dem Gebrauch von drei verschiedenen, im Buch enthaltenen Quellbüchern ergibt, die an bestimmten Stellen über Verweise miteinander verknüpft sind. Es existiert eine männliche und ein weibliche Fassung, die sich inhaltlich erst im Vergleich beider zusammenfügen. Ein Beispiel für einen statisch-dynamischen Hypertext, der jedoch ein Fortschreiben (in Kommentaren und Ergänzungen) und eine Neu- oder Umstrukturierung nur außerhalb des Buches selbst erlaubt. Er zeigt exemplarisch die wahrscheinlich äußerst mögliche Grenzerweiterung eines physisch gespeicherten Textes.
Milorad Pavic. Chasarische Wörterbuch - Weibliches Exemplar/Männliches Exemplar München: Hanser, 1988
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Die besondere Wichtigkeit der Netzwerktextualität zeigt sich, wenn Technologie Leser (reader) in Leser-Autoren (reader-authors), verwandelt, in "wreaders". Denn jeder Beitrag, jede Änderung im Gewebe, erstellt von einem Leser , wird schnell anderen Lesern zugänglich. Diese Fähigkeit, in einem Gewebe zu schreiben verwandelt Kommentare, private Notizen, so wie man sie am Rand der eigenen Ausgabe eines Buches macht, in öffentliche Aussagen, was besonders in den Ausbildungsstätten, starke demokratisierende Effekte hervorruft.
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Die Erfindung des drahtlosen Modems erlaubt es, sich am Ort hin und her zu bewegen, während man einen Computer von annähernd der Größe eines bedruckten Buches trägt, der mit einem Server verbunden ist. Diese Technologie ermöglicht es in der Badewanne ein richtiges elektronisches Buch zu lesen - wenn man unter Buch versteht, daß es lesbare Seiten haben sollte, die in sich eine starke physische Ähnlichkeit mit den Objekten bergen, von denen wir gewöhnlich lesen.
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Doch ein elektronisches Buch existiert als elektronischer Code und nicht als physische Zeichen auf einer physischen Oberfläche; es ist immer virtuell, immer ein Simulakrum für das es keine physische Gleichzeitigkeit gibt.
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Zwei prinzipielle Unterscheidungen sind für die Betrachtung von Hypertext wichtig, die zwischen vernetzten und abgeschlossenen Systemen und die zwischen Read-Only Hypertext, in dem der Leser sich nur seinen eigenen Lesepfad aussuchen kann, und Hypertext in dem der Leser auch Text hinzufügen kann, Verknüpfungen oder beides.
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Solange Information nur auf einem Computer abgespeichert sind, kann der entscheidende Vorteil des Digitalen nicht genutzt werden - daß digitalisierter Text von vielen Usern gleichzeitig manipuliert werden kann.
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Neue Möglichkeiten tauchen auf, weil die digitale Technologie virtuellen, sofortigen Rückgriff auf Daten erlaubt, denn die Suche bringt einen direkt zur gewünschten Stelle, ohne daß eine sequentielles Absuchen von hunderten oder gar tausenden Texten erforderlich wäre.
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Die große Macht der digitalen Technologie liegt in ihrer Fähigkeit, Information zu lagern und sie dann in zahllosen virtuellen Versionen an Leser zu verteilen, die sie dann manipulieren, kopieren und kommentieren können, ohne daß das Ändern des Materials von anderen eingesehen wird.
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Das Erklärungsmodell des kontextgesteuerten Suchens Kognitiver Wahrnehmungs-forschung besagt, daß relevante Information nicht deshalb zur Selektion gelangt, weil sie relevant ist, sondern weil sie sich vom Kontext unterscheidet, in den sie eingebettet ist. Übertragen heißt das: die Bedeutung eines Wortes liegt nicht im Wort selbst, und wird nicht einfach 1:1 decodiert, sondern wird durch eine vom Leser ausgehende kontextuelle Definierung und einer sich daraus ergebenden inhaltlichen Bezugnahme generiert.
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In der musikalischen, instrumentellen Improvisation (z.B. Jazz) findet mensch multilineares Zusammenspiel mehrerer gleichberechtigter Autoren.
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Als ein Effekt der sofortigen Befriedigung des eigenen intellektuellen Bedürfnisses, die Bedeutung eines Wortes, einer Phrase zu lernen oder zu bestätigen, stellt sich heraus, daß Leser von Hypertext-Lexika Definitionen weit öfter abrufen als das Benutzer gedruckter Wörterbücher tun. Wen man weiß, daß das Nachschlagen eines Wortes über eine Minute dauert, fängt man schnell an nur noch auf die Wörter zu achten von denen man glaubt, sie seien zum groben Verstehen eines Satzes absolut nötig. Elektronisches Verknüpfen, das die Grenzen jedes informatisierten (informatized) Textes auflöst, bringt auch eine beinahe unglaubliche Beschleunigung bestimmter Referenz-Funktionen mit sich.
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Mit anderen Worten, die elektronische Verknüpfung schriftlicher Arbeiten, welcher Art auch immer, mit einem referentiellen Text löst die einmal fundamental gewesene Differenz - fundamental in der Gutenbergwelt - zwischen Text, geschrieben, um ihn von vorn bis hinten durchzulesen und Text, geschrieben für die Konsultation auf.
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Ein Anzeichen für die Wichtigkeit der Elektronischen Post und der Textübertragungs-technologie ist, daß ich möglicherweise in engerem Kontakt mit geographisch gesehen weiter entfernten Leuten, mit denen ich über das Internet verbunden bin, stehe, als mit Leuten meiner eigenen Institution, die dieses nicht nutzen. Mit anderen Worten, die digitale Welt rekonfiguriert Ausbildung, indem der Prozeß, der mit der Erfindung 1. des Schreibens und dann des Druckens begann, fortgeführt wird und der Student von der Notwendigkeit der physischen Präsenz des Lehrers befreit wird. Diese Freiheit hat, zu einem gewissen Preis, den ausgleichenden Vorteil knappe Ressourcen der Institutionen aufzuteilen und die Einführung dessen zu unterstützen, was manche Ausbilder "Distanzlernen" nennen, Lernen außerhalb der Schulen und Universitäten. Der wichtigste Vorteil solcher Technologie liegt in der Weise wie sie neue Arten elektronischer Gemeinschaften bildet mit der Fähigkeit intellektueller Erziehung und anderem.
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URL der Landow-Homepage: http://www.stg.brown.edu/projects/hypertext/landow/cv/landow_ov.html
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Hypertext hat die Tendenz, Dokumente in voneinander getrennte Lexias zu atomisieren.
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In der sog. Hypermediaversion eines Textes sind Sound und auch Animationen inbegriffen, z.B. in Form von QuickTime Movies, deren informationeller Gehalt in einem Printmedium schwierig, wenn nicht gar unmöglich umzusetzen wäre. Das Elektronische Textbuch erreicht hier offensichtlich einen Bereich, der über das gedruckte Buch hinaus geht, indem es mehrere verschiedene Arten von Informationen anbietet in der Form digitaler Simulakra, und indem es mehr Erfahrungsmöglichkeiten anbietet, als es einem allein alphanumerischen Text, mit Fotos und Skizzen möglich ist. Das elektrifzierte Buch transformiert die Informationen eines Buches. Am offensichtlichsten dabei ist der faktische Prozeß des Auflösens der Trennung zwischen des einzelnen, sich selbst genügenden Text und dieser neuen Entität, dem Gewebe oder Metatext.
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Die Übersetzung eines Buches in Hypertext bildet notwendigerweise eine axiale Organisationsform in der Verweise, Referenzen und andere Ergänzungen des Haupttextes von diesem strahlenförmig abgehen wie Zweige von einem Baum.
Ein ganzer Satz axialer Strukturen führt zu einer Netzstruktur. Verknüpfung führt zu einer Netzwerkorganisation. Ein Wechsel vom informationellen Regime des Buchdrucks zum informationellen Regime der Elektronik findet statt.
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Lyotard: "Jedes Datenstück wird operational nützlich wenn es einmal in Information übersetzt werden kann. Wenn sie in eine digitale Form gebracht worden sind, können diese Dateneinzelheiten überall und jederzeit synthetisiert werden um ein jeweils identisches z.B. akkustisches Produkt zu produzieren. Sie können dadurch unabhängig von Ort und Zeit ihrer ‘intialen’ Rezeption übertragen werden, realisierbar in einer spatialen und temporalen Distanz: sagen wir telegrafisch."
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Bevilacqua begann mit der Konzeption des Studenten "als Forscher, der sich seinen eigenen konzeptuellen Rahmen baut" und Lehrern, die nicht "Hüter der Wahrheit, sondern ‘Coaches’ sind, die dem Studenten bei seiner Suche helfen."
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Textgewebe bieten nicht nur einen Weg des Zugangs zum docuverse, und sie haben haben nicht nur einen Weg um herauszugehen. Daraus ergibt sich ein Überfluß, der mehr enthält als daß von einem einzelnen Leser erwartet werden kann, daß er das liest.
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Lyotard sieht den Leser digitalsierter Texte involviert in ein tyrannisches System. Die Frage nach den "freien Formen" sei hier nicht mehr gegeben. Die Informations-einheiten gefaßt in bits, seien unter einer Reihe von Möglichkeiten zusammengefaßt (dem Menü), das unter der Kontrolle eines Programmierers steht. Laut Landow übersieht er die Tatsache, daß Sprache und Schreiben selber machtvolle Technologien sind. Lyotard verwechsle das altmodische zentralisierte mainframe computing mit den neuen Informationstechnologien als ganze. Auf einem Computer einen Text zu schreiben ist eine erste primitive Form des Programmierens.
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Wie Kittler richtig hervorhebt: "Technologien wie der Buchdruck und die damit verbundenen Institutionen, wie Literatur und die Universität, konstituierten eine geschichtlich sehr mächtige Formation, die im Europa des Goethezeitalters die Möglichkeitskondition für die literarische Kritik wurde." Leser, separiert in Raum und Zeit, konnten sich auf exakt den gleichen Text berufen, was für uns heute normale Praxis ist. Hypertext, der dem Leser erlaubt eigene Wege durch eine Reihe von Möglichkeiten zu wählen, löst die fundamentale Fixierung, die die Begründung unserer kritischen Theorie und Praxis ausmachte auf.
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Neue Technologien sollten nicht in der Weise betrachtet werden, als seien sie neue Mittel, die auf in ihrer Essenz unveränderliche Werke angewandt werden. Mit der veränderten Materialbedingung und ihrer Handhabe, ändert sich auch die Bedeutung eines Inhalts.
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Lange, oder besser große Hypertexte offerieren dem Kritiker zu viele Lexias, als daß der sie lesen könnte. Quantität ersetzt Meisterung und Autorität, so daß man einen Text nur samplen, nicht bewältigen kann. Der nichtreproduzierbare Text bringt den Kritiker in eine Situation, ähnlich der Prä-Buchdruckwelt, in der handschriftlicher Text es unmöglich machte, sicher zu gehen, daß ein anderer Leser präzise den gleichen Text gelesen hatte. Der kritische Leser wird nun mehr zu einem Wissenschaftler, der zuläßt, daß seine Schlußfolgerungen, unausweichlich, die Form reiner Samples annimmt. Wie der Physiker, der in Milliarden von Ereignissen hineingreift, wie der Theaterkritiker der nur ein paar von vielen Aufführungen diskutiert, samplet der Kritiker und nur das, man muß hinzufügen, bei aktiver Beteiligung in der Textproduktion in einer weit aktiveren Weise als jemals zuvor.
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Das innovative Moment der Idee des Hypertextes kann im Konzept des Wreaders gesehen werden. Dadurch, daß der Leser zugleich Schreiber eines quasi unendlich verzweigten und online einsehbaren Textes sein kann, hebt sich die Teilung in Autorenkompetenz und Rezipientenkompetenz zumindest auf ideeller Ebene auf. Landow bezeichnet schon das als demokratisierenden Effekt. Verglichen mit dem Konzept ‘Talk-Show’ des Fernsehens hieße das, Rede und Gegenrede basieren auf gleichverteilten und gleichlautenden technischen Mitteln. Nicht nur einem begrenzten Kreis redaktionell ausgewählter Experteninnen wird nach dem Modell one-to-many diskursiv das "Wort" erteilt, sondern potentiell jeder sich im Übertragungskanal aufhaltenden Person, nach dem Modell many-to-many, wobei Auswahl, Zensur, Speicherung und Multiplikation jeder Teilnehmerin individuell obliegt.