Anfang Dezember 95, unmittelbar nach HYPERMEDIA in Salzburg, gab es ein weiteres internationales und interdisziplinäres Projekt zur Analyse von "Perspektiven und Mythen der Gegenöffentlichkeit in Datennetzen", so der offizielle Untertitel. Der Ausgangspunkt war, daß durch das Internet der Begriff einer "Gegenöffentlichkeit" wieder auflebt:" In den siebziger Jahren formulierten Autoren wie Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge Kritik am bisherigen Mediengebrauch. Der Begriff Gegenöffentlichkeit stand für einen Forderungskatalog nach Offenen Kanälen, Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung. Die politische Durchsetzung, aber auch ihre künstlerische und medienkritische Begleitung wurde u.a. zum Anliegen der Dokumentarfilm- und Videobewegung. Derartige Ideen sind zwar partiell realisiert worden, bleiben jedoch in der Medienlandschaft quantitativ gesehen unbedeutend." (Interfiction, Vorwort der Organisatoren) Davon ausgehend wurde die Frage aufgeworfen, ob das Internet durch seine technischen Gegebenheiten sozusagen "systemimmanent" bessere Möglichkeiten als Film und Video bietet, zu einem demokratiepolitisch wichtigen Forum zu werden. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die dialogischen Möglichkeiten des Internets, seine nicht-hierarchische, flache Struktur, seine weltweite Präsenz und seine mittlerweile einfach gewordene Handhabbarkeit.
Doch es ist klar, daß mehr Demokratie nicht einfach automatisch Resultat der globalen Vernetzung sein wird. Deshalb wurden verschiedene inhaltliche Konzepte diskutiert. Volker Grassmuck präsentierte die Rohfassung eines Papiers über xs4all in Form von FAQ´s, Frequently Asked Questions . Bei der 1996 stattfindenden Internet World Expo im Netz wird diese taktische Recherchearbeit als eigener virtueller Pavillon angemeldet. Weitere interessante Vorschläge kamen vor allem von Padeluun, langjähriger BIONIC-Mailbox Betreiber.
Besondere Aufmerksamkeit sollte das Projekt Prenzlnet genießen. Im Berliner Viertel Prenzlauer Berg werden verschiedene Lösungen entwickelt, von großen Ethernets über Laser bis zum Babyphon und Packet-Radio, wie die Kosten für den "Local Loop" - das gebührenfressende letzte Stück Kabel im Telekomnetz, das vom lokalen Provider zum Privathaushalt führt - möglichst niedrig gehalten werden können. Eine Liste von günstigen "Starterkits" wird erarbeitet, um dem Unheil der Gebührenreform entgegenwirken zu können.
Prenzlnet zeigt, daß Netzkritik auch durch technische Projekte geübt werden kann. Lowcost-Technologien, vernünftig eingesetzt, schaffen modellhaft ein entsprechendes Problem- und Selbstbewußtsein. Dennoch bleibt es weiterhin erstrebenswert, daß die Telefongebühren netzfreundlicher gestaltet werden. Denn jede Entwicklung einer digitalen Informationskultur, welche diese Bezeichnung verdient, basiert auf der Möglichkeit des Zugangs zu ihren Trägermedien, auf vorhandenen technischen, finanziellen oder kulturellen Gegebenheiten.
Einen Hintergrundbericht zu Interfiction bringt der Artikel Schlaglichter für Netzkultivierte von Herbert A.Meyer.