interfiction ist eine eigenständige Sektion im Rahmen des alljährlich stattfindenen Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes. Zur Debatte stehen hier nicht mehr einzelne Medien, sondern die Integration der Medien durch die Universalmaschine Computer (Turingsche Galaxis; , ).
'fiction' ist Erdachtes, Erfundenes, das so nicht in der tatsächlichen Wirklichkeit existiert. Keineswegs eine Fiktion sind die rasch umsichgreifenden und in naher Zukunft wohl allgegenwärtigen Datennetze. Im Gegensatz zu vielen anderen einschlägigen Veranstaltungen soll interfiction dem Hype zum Thema Internet und Multimedia nicht weiterhin Vorschub leisten, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit der digitalelektronischen Vernetzung fördern. Vernetzung ist nämlich eine alte Sache. Verändert hat sich nur, dass die ehedem kleinen Computernetze auf einmal ein grosses Publikum ansprechen und unter kommerziellen Gesichtspunkten interessant werden. Der Entwicklungsprozess wird von Tag zu Tag schneller. Alles wird anders werden, aber nichts wird sich ändern.
Im Dezember 1995 wurde interfiction erstmalig durchgeführt. Als Rückbesinnung darauf, die Netze als historisch gewachsen zu begreifen, wurde als leitende Fragestellung 'Perspektiven und Mythen von Gegenöffentlichkeit in Datennetzen' gewählt. Die Anziehungskraft dieses Themas ermöglichte das Zusammenkommen von Protagonisten unterschiedlicher inner- und außerakademischer Szenen. In einer zweitägigen Fachtagung, die von Vorträgen umrahmt wurde (Sabine Helmers, Geert Lovink, Klaus Schönberger, Kathy Rae Huffmann), sassen ca. 40 Personen in einer seminarähnlichen Veranstaltung an einem Tisch. Neben dem Austausch zum Stand der Dinge in den einzelnen Projekten wurde sondiert, ob es über den gemeinsamen Nenner einer nichtkommerziellen Nutzung der Datennetze hinausgehend Gemeinsamkeiten gibt, die taktisch einzusetzen sind.
Elektronisch vermittelte Kommunikation ist in vielerlei Hinsicht abhängig von sozialer Vernetzung. Kollektive Ausbrüche lassen sich schnell organisieren, jedoch nur, wenn sie an soziale Praxis gebunden sind. Und: was nützt eine Festplatte voll mit guten Texten, wenn diese nicht an ein Außen gekoppelt sind, fragte Pit Schultz.
'Wir wollen ja Versager sein, wir sind ja immer dagegen'. Dieser Zwischenruf von padeluun brachte so einiges ans Tagelicht. Auf die angesprochene Lust am Scheitern bezog sich Volker Grassmuck, als er meinte, daß wir uns selbst zum Trotz ausnahmsweise mal eine ganz gute Chance hätten zu gewinnen. Und zwar die egalitären Kommunikationsstrukturen, die nahezu unbeabsichtigt entstanden sind. Nicht mehr ginge es darum, etwas zu schaffen, sondern etwas zu verteidigen: den vielbeschworenen Internet-Geist. Netz-Geist, wurde von padeluun berichtigt. Dieser forderte später dann die offizielle Anerkennung der Datennetze als fünfte Macht. Gefragt, wer denn die anderen vier Mächte seien, gab es die trockene Aufklärung: Legislative, Exekutive, Judikative und die herkömmlichen Medien.
Es gibt keine Netz-Kinder und Internet-Opas, sondern, wenn überhaupt, Internet-Kinder und Netz-Opas. Die Kluft zwischen der entwicklungsgeschichtlich älteren Schicht der Datennetze (ASCII-Universum) und dem World White Web (WWW) wurde bestätigt, angezweifelt, und zuguterletzt wiederum bestätigt. Am ersten Tag dominierten sowohl zahlenmäßig als auch von der Anzahl der Redebeiträge die Vertreter der WWW-Projekte (Es gab sogar ein demonstratives Verlassen des Raumes, warum auch immer ;-]). Den längeren Atem hatten allerdings die Vertreter der Netzprojekte, die in aller Regel mit dem Store-and-Forward- Prinzip arbeiten. Sie gestalteten mehr oder weniger die Diskussion am zweiten Tag über ethische Prinzipien innerhalb von Datennetzen. Allerdings, nach dem offiziellen Teil gab es auch bedeutsame Annäherungen zwischen der WWW- und ASCII-Szene, aus denen möglicherweise taktische Koalitionen entspringen.
Es gibt noch mehr zu lesen über interfiction: Feindbild Telekom: Zur 'Interfiction' in Kassel trafen sich Internet-Nutzer, um über Online-Piraterie und die Möglichkeit eigener 'Netzgesetze' zu diskutieren (TAZ), Interfiction. Fragen nach Öffentlichkeit (Texte zur Kunst, Interfiction - Perspektiven und Mythen von Gegenöffentlichkeit in Datennetzen und (ZKP).
Davon ab. Es wird ein zweites interfiction geben. Wieder im Niemandsland zwischen Euphorie und Verweigerung. Da wo Vorstellungen miteinander er- und gefunden werden.
12Mar96