interfiction
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09-07-96
Date: Mon, 17 Jun 1996 12:38:31 +0200 (MET DST)
From: Geert Lovink
To: if@duplox.wz-berlin.de
Subject: Hartmut Winkler interview
Der Computer: Medium oder Rechner?
Ein Begegnung im Netz mit Hartmut Winkler
Von Geert Lovink
G.L.: Hartmut, ich werde dich zuerst vorstellen. Der Frankfurter Theoretiker
Hartmut Winkler hat gerade eine umfassende Kritik der neuen Deutschen
Medientheorie vorgelegt. 'Docuverse' heisst seinen Habitationsschrift,
und das 420 Seiten dicke Manuskript traegt als Untertitel
'Zur Medientheorie der Computer'.
Thema im hintergrund ist das Internet und der gegenw„rtige Umbruch der Medienlandschaft
von den Bildmedien hin zu den Computern und stellt die Frage nach den
gesellschaftlichen Motiven fuer diesen Wechsel. Im Mittelpunkt steht der
Begriff der 'W?nsche', die "Rekonstruktion der Wuensche, auf die das
Datenuniversum eine Antwort ist. Der Titel 'Docuverse' wurde uebernommen
von Ted Nelson und ist fuer Winkler ein wichtiger Begriff, weil er dazu
zwingt, das Datenuniversum als eine textbasierte, technisch/soziale Gesamtanordnung zu
denken und es gleichzeitig moeglich macht, diese Idee als eine
Theoriefiktion zu kritisieren.
Hartmut Winkler ist Medienwissenschaftler an der Uni Frankfurt am
Institut fuer Theater-, Film- und Medienwissenschaft. 1991 erschien sein
Buch 'Switching - Zapping' ueber dieses medienkulturelle Phaenomen, eine
gelungene Mischung von Film- und Medientheorie, wo Begriffe wie Montage
und Traum ploetzlich in einen neuen Zusammenhang auftauchen (siehe auch
meine Rezension in Mediamatic 8#1). Sein zweites Buch zur Film- bzw.
Medientheorie heisst 'Der filmische Raum und der Zuschauer' (Heidelberg,
1992) und handelt von den sogenannten 'Apparatus'- Theorien, ein neuer
Ansatz zur Techniktheorie des Films, der in den 70er Jahren in Frankreich
begann und in den spaeter in den USA weiterdiskutiert wurde.
'Docuverse' ist vorerst ein normaler Habitationschrift: zaeh, akademisch, manchmal langweilig und immer
verantwortungsvoll. Das interessante daran aber sind die Fragen, die
gestellt werden und die weit ueber den kleinen akademischen Kreis
hinausgehen. Winklers These lautet, dass der Computer grundverschieden
von den Bildmedien ist, nicht auf Bildern, sondern auf basiert und sich
demnach auch anders entwickeln wird als die Propheten der neuen Medien
uns vorspiegeln. Also keine Synergie von Internet und Fernsehen? Und ist
die ganze Multi-Media Branche wirklich eine Einbahnstrasse?
Winkler fragt sich also was die Mediengeschichte
antreibt, schreibt ueber die Netzmetapher in der Sprachtheorie, ueber
Computer als Gedaechtnismaschinen, Leroi-Gourhan und seine
Evolutionsgeschichte der Technik, Mnemepathie, Vergessen und Verdichtung
(Freund und, wie war der Name?... Lacan), die 'Krise der Bilder', den
Gegenbegriff 'Kontext' und am Schluss ueber der Computer als das 'Medium
der Isolation'. Ja, Frankfurt, werden viele sagen, da meldet sich der linker
Kulturpessimist, darauf haben wir schon gewartet. Diesen Etiketten sind
aber viel zu einfach im Falle Winkler. Zuerst kennt er sich in der
Literatur zu neuen Medien sehr gut aus, hat selbst jahrelang
programmiert, meckert nicht ueber 'die Kulturindustrie', sondern kommt
mit ganz frischen Thesen und Gegenargumente. Die deutsche Medientheorie
soll diese Herausforderung annehmen und ueber das akademische hinaus,
die Debatte ueber das Wesen der Computer und seinen Netze in die
(virtuelle) Oeffentlichkeit fuehren. Kannst du aber zuerst kurz andeuten,
worum es dir in 'Docuverse' geht?
H.W.: Bei dem Projekt, das Buch zu schreiben, sind zwei
Interessen zusammengekommen: zum einen der Aerger ueber den
riesigen Computer-als-Medium-Hype, der mit dem Internet
ausgebrochen ist, und die modische, vorschnelle Art, in der
die Debatte gegenwaertig gefuehrt wird; und zweitens die
Moeglichkeit, meine Programmierer-Vergangenheit auf diese
Weise zurecyclen.
Es hat es mich gereizt, das Medium Computer mit bestimmten
Theorien zu konfrontieren, die an den klassischen Medien
entwickelt worden sind; und dann zu gucken, was aus denjenigen
Kategorien wird, die gegenwaertig in aller Munde sind. Was in
der Debatte bisher voellig gefehlt hat, sind Ueberlegungen zur
Theorie der Sprache. Das WWW explodiert als ein Medium der
Texte und der Schrift; und kein Mensch ueberlegt sich, wieso
die Mediengeschichte die technischen Bilder (Fotografie, Film
und TV) nach 100 Jahren offensichtlich aufgibt und, wie es
scheint, zu Schrift und Sprache zurueckkommt. Stattdessen wird
- v”llig albern - das 'Ende der Gutenberggalaxis' verkuendet,
das, wenn ueberhaupt, bereits um 1900 eingetreten ist.
G.L.: Deine Kritik der 'Medientheorie' gilt vor allem einer
bestimmten Gruppe von Autoren, die seit Ende der achtziger
viel veroeffentlichten. Einerseits der 'Kassler Schule' um
Kittler, Bolz und Tholen und andererseits dem Ars Electronica-
Kreis um Weibel und Roetzer. Waere es moeglich, diesen
'Diskurs' etwas genauer einzukreisen? Aus meiner Sicht gibt es
hier ganz klare regionale und kulturelle, sogar historische
Rahmenbedingungen unter denen diese rege Textproduktion
zustande kam. Mir faellt immer das Jahr 1989 ein: Hoehepunkt
der achtziger Jahre, des Juppietums und des Postmodernismus,
Fall der Mauer, Geburt des Technos und die erste Ankuendigung
von VR und Netzen. Diesen Theoriekreis nun kann man weder als
links-progressiv, im Sinne einer pauschalen Technologiekritik,
noch als rechts-konservativ, im Sinne eines Kulturpessimismus
einstufen. Natuerlich gibt es immer diesen Geist Heideggers im
Hintergrund. Und Lacan koennte man auch als gemeinsame
Grundlage nennen, das gilt sogar fuer dich.
Sehr lange war es in West-Deutschland so, dass alle, die sich
mit Medien befasst haben, als gesellschaftkonform galten. Aber
das fand ich immer eine Krankheit der Ideologiekritik. Die
Mediensphaere ist ja sehr real und materiell (und wird das
mehr und mehr). Vertreten diese Autoren noch etwas, oder soll
man gar nicht mehr fragen nach soziologischen und
ideologischen Positionen?
H.W.: Es ist richtig, dass sich mein Buch vor allem auf die
deutsche Theorie und auf die genannten Autoren bezieht, und
aus der Kritik die eigenen Deutungsvorschlaege entwickelt. Das
ist das Projekt. Den historischen Ort dieser Debatte aber sehe
ich anders: zunaechst denke ich nicht, dass die
Ideologiekritik schlicht und generell medien- und
technikfeindlich war. Wenn die genannten Autoren sich von der
Ideologiekritik ueberklar distanzieren (und in Deiner
Darstellung klingt dieser Gestus ein wenig nach), so sehe ich
dafuer ein ganzes Buendel von Motiven: ein berechtigtes
Beduerfnis, zu einer differenzierteren Deutung der Technik zu
kommen und bestimmte Aporien auf dem Gebiet der
Ideologiekritik zu ueberwinden. Daneben aber scheint mir die
Distanzierung ein unmittelbares Resultat politischer
Enttaeuschungen zu sein. Die Technik bietet sich als ein
Fluchtraum an vor den komplexen Anforderungen des
Sozialen, und wer in der Technik das 'Apriori' der
gesellschaftlichen Entwicklung ausmacht, muss sich um vieles
nicht mehr kuemmern. Und vor allem hat man sich von der Frage
befreit, was wiederum der Technikentwicklung ihre Schubkraft
und ihre Richtung gibt.
Und hier wuerde ich Kittler und Bolz klar unterscheiden:
Waehrend Kittler tatsaechlich Technikhermeneutik betreibt, und
zurueckgewinnen will, was der soziale Prozess in die Technik
hineingeschrieben hat, wendet sich Bolz in eine offene
Affirmation, mit politisch reaktionaeren Implikationen. Ich
denke wie Du, dass die Debatte eine exakte Zeit-Stelle hat.
'1989' aber steht fuer mich nicht fuer einen Aufbruch, sondern
fuer einen teigigen Kanzler und die potentielle
Verewigung/Globalisierung der Buergerherrlichkeit. Und wenn
die Technik die einzige Sphaere ist, in der noch
'Fortschritte' zu verzeichnen sind, so ist es kein Wunder,
dass sie begeisterte Fuersprecher findet.
G.L. In der Tat hat meiner Meinung nach die 70er-Jahre-
Ideologiekritik grossen Schaden verursacht, in dem sie den
Medienbereich erstens grob vernachlaesste und zweitens sich
weigerte zu verstehen, was Leute so anzieht an der
Massenkultur, eine Frage die die englischen cultural studies
dann aufgriffen. Man sieht diese fatale Haltung immer noch bei
den Zeitschriften Spex und Beute, die die Medien pauschal als
Ideologie abtun und, wie Mark Terkessides, den Kulturkampf
nach wie vor im Feuilletonbereich ansiedeln. Wer sich
innerhalb der Pop-Linken mit Kultur beschaeftigt, muss sogar
Carl Schmitt (wieder)lesen.
H.W.: Wenn Du von den 70er Jahren sprichst, sprichst Du
bereits von den Juengern, und ich gebe Dir recht, daá diese
die Propheten haeufig unterboten haben. F?r die Klassiker der
Kritischen Theorie aber gilt, was Du sagst, nicht; weder f?r
Kracauer, der sehr groáe Hoffungen in die Massenkultur setzte,
noch f?r Benjamin; bei Brecht gibt es die Utopie, den
Massenmedien ihren monologischen Charakter zu nehmen, eine
Utopie, die von Enzensberger in den Sechzigern aufgegriffen
wird, und die zur Grundlage einer Vielzahl praktisch-
demokratischer Medieninitiativen geworden ist, die Kommunalen
Kinos sind in den sechziger/siebziger Jahren gegr?ndet worden
usf.
Vor allem aber finde ich, daá die Gegen?berstellung: Kritik
versus Sympathie/Verst„ndnis/Affirmation viel zu grob
gestrickt ist. Wenn es das 'Kulturindustrie-Kapitel' der
Dialektik der Aufklaerung nicht gaebe, muesste es schnellstens
geschrieben werden, als ein Beitrag zu einer Debatte und als
eine sehr radikale Perspektive, die eine bestimmte Seite der
Medien sichtbar macht. Und die 'Aesthetische Theorie' Adornos
enthaelt, obwohl sie Medien, Jazz und Massenkultur verwirft,
eine Menge Kriterien, die die Medien eigentlich besser und
selbstverstaendlicher erfuellen als die von ihm favorisierte
autonome Kunst.
G.L.: 'Die' Medientheorie ist meines Erachtens nicht mehr dem
alten, instrumentellen, rationellen Technokratiedenken der
damaligen Bundesrepublik (dem Wohlstands-NATO-Polizei-
Atomstaat) verhaftet. Weder positivistisch noch aus dem
Negativen heraus arbeitend, scheint sie vor allem der inneren
Stimme der Technik auf der Spur zu sein. Die entseelten
Maschinen, abgenutzt durch ihren Warencharakter, sollen
(wieder?) zum Singen gebracht werden. Es sind ja vor allem
Leute aus den Bereichen Germanistik, Philosophie und Kunst. So
eine Konstallation gibt es, oder gab es, nur in West-
Deutschland, um diese Zeit (1989). Anderswo muss man die
Medientheorie vor allem in den Bereichen Soziologie,
Kommunikationswissenschaften und in der harten
Technikgeschichte suchen. Warum ist 'die Deutsche
Medienideologie' und ihre 'virtuelle Klasse' (wenn man sie
ueberhaupt so nennen moechte) so erhaben, dichterisch
eingestellt? Anderswo erfinden die Medienspezialisten nicht
solche wunderschoenen und komplizierten Begriffe um den grauen
Medienalltag zu beschreiben. Wird Deutschland in der
internationalen Arbeitsteilung mehr und mehr zum Land der
Datendichter und -denker?
H.W.: Oh je, jetzt bin ich in der Position, eine deutsche
Sonderloesung verteidigen zu muessen. So absurd ich viele
Bemuehungen, viele Begriffe und Zwischenergebnisse der Debatte
finde, so entschieden denke ich, dass die pragmatischer
eingestellten Approaches ("Soziologie,
Kommunikationswissenschaft und harte Technikgeschichte") ihren
Gegenstand - die Medien - verfehlen. Wir wissen ausdruecklich
nicht, was Medien eigentlich sind. Wir wissen, dass eine
relativ blinde Praxis sie in die Welt bringt, wir wissen aber
nicht, was es bedeutet, dass 'Kommunikation' immer
kompliziertere technische Gadges verlangt und die Welt der
Symbole mit der der Technik immer weiter verschmilzt; und
solange wir das nicht wissen, denke ich, ist es sinnvoll, an
den Begriffen zu arbeiten. 'Kommunikation' ist ein gutes
Beispiel; Du gehst sehr selbstverstaendlich davon
aus, dass lebendige Menschen (bilateral) miteinander
kommunizieren, im Gegensatz zum 'toten' Universum der Schrift.
Aber ist das plausibel? Ist nicht die Technik selbst in diesem
Sinne 'tot' wie die Schrift? Und ist das nicht Grund genug
fuer das Beduerfnis, sie wieder zum 'Singen' zu bringen?
Und hier beginnt mein Plaedoyer auch fuer die "akademischen
Denkverfahren", die Du in deinem Begleit-Brief genannt hast.
Sicher gibt es sie, die "universitaeren Schreibrituale";
gleichzeitig aber ist das wissenschaftliche Schreiben eine
Chance, Abstand zu nehmen von den Selbstverstaendlichkeiten
und anders zu sprechen, als dies unter Praxisbedingungen
moeglich und noetig ist. Mich wundert immer wieder, wie
schnell und hart sich bestimmte Dinge als Konsens etablieren.
Multimedia ist das natuerliche Ziel der Computerentwicklung,
der Computer eine universelle Maschine usf... Wenn man gegen
solche Konsense angehen will, braucht man entweder gute Nerven
oder gute Argumente (und wahrscheinlich beides). In jedem Fall
aber Begriffe, die nicht aus der unmittelbaren Debatte selbst
stammen, sondern aus anderen Zusammenhaengen, und wenn es eben
Lacan oder Heidegger sind. Und wenn die internationale
Arbeitsteilung diesen Teil der Theoriebildung den Deutschen
uebertraegt, meinetwegen; die (wir) haben schon schlimmere
Jobs gemacht.
G.L.: Bleibt zu hoffen, dass die Universitaeten (und ihre
Rituale) Plaetze fuer Kritik und Reflektion sind. Ich habe es
anders erlebt und sehe auch nicht, dass deine (an sich
richtige) Grundhaltung dort gefoerdert wird. Es geht hier um
die Frage, wo und wie eine Medientheorie entsteht, die eigene
Begriffe hervorbringt und die Konsense durchbricht, absolut.
Die Gefahr der Position von Medienkuenstlern und
freischwebender Intelligenz (wie ich) ist in der Tat, dass wir
zu nahe an der dreckigen Wirklichkeit arbeiten. Man muesste
immer wieder fuer die eigene Weltfremdheit sorgen, sonst
verschwinden wir vollends in der Hypernormalitaet.
Also, um 1989, in einer Zeit von raschen technologischen
Entwicklungen, entsteht im Theoriebereich eine
Spekulationsbewegung die sich dadurch kennzeichnet, dass sie
keinen Abschied nimmt von der Gutenberggalaxis, sondern das
ganze Wissen der letzten Jahrhunderte in den Cyberspace
mithineinnimmt, die Spuren der Technikgeschichte
zurueckverfolgt und Verbindungen zwischen Chiparchitektur und
moderne Literatur legt, worauf andere, ohne dieses Buchwissen,
nie kommen wuerden. Sowieso kommt die Technik doch gut ohne
Nietzsche und die Geisteswissenschaften aus? Es sind doch nur
wir, die Intellektuellen, die die Lebenshilfe von Kittler u.a.
brauchen, um mit der Technik klarzuwerden? Medientheorie,
erfasst fuer eine bestimmte Schicht des Bildungbuergertums,
die sich mit den titanischen Kraeften der 'Techne' schwer tun?
Oder Sammelbaende um den Aktien von AEG, Mercedes-Benz,
Siemens und Deutscher Bank mehr Gewicht zu geben?
Fuer die Macht sind die metaphysischen Kenntnisse der
deutschen Medientheorie, meiner Meinung nach, nicht besonders
brauchbar.
H.W.: ...das will ich sehr hoffen. Und selbstverstaendlich
kommt die Technik ohne Nietzsche aus. Generell aber geht es
nicht einfach darum, mit der Technik klarzukommen, so wie sie
ist. Wenn diese Gesellschaft sich entschieden hat, immer mehr
Inhalte nicht in Texte, sondern in die Technik einzuschreiben,
dann hat dies die Pointe, dass die Inhalte dort als solche
nicht mehr sichtbar und nicht mehr erkennbar sind. Sie
erscheinen als natuerliche Eigenschaften der Dinge, als
Resultat eines linearen (und notwendig einsinnigen)
technischen Fortschritts, als unhinterschreitbar. Es ist das
gleiche wie mit den Codes. Was einmal codiert ist, ist
unsichtbare 'Voraussetzung' von Kommunikation. Und wer
vertritt, eine Kritik der Technik sei nicht mehr moeglich und
das Zeitalter der Kritik generell vorbei, sitzt letztlich
einer Naturalisierungsstrategie auf.
Aufgabe der Theorie und der Technikhermeneutik waere es
entsprechend, die Inhalte zurueckzugewinnen, die in die
Technik hinein 'vergessen' worden sind. Die Entscheidungen und
Wertsetzungen, die sozialen Strukturen und
Machtkonfigurationen; die Praxis, die in der Technik Struktur
geworden ist. Diesen Umschlag von Praxis/Diskurs in Struktur
(und Struktur in Praxis/Diskurs) zu zeigen, ist das
hauptsaechliche Theorie-Projekt meines Buches.
Deine 'Netzkritik' will ja exakt das selbe. Auch die
gewachsene Struktur des Netzes ist auf Kritik nicht
angewiesen, um weiterwachsen zu koennen. Und wenn Du nicht
einfach mitbaust, sondern in einem anderen Medium (Schrift und
Druck) ueber das Netz nachdenkst, dann ist es zu Nietzsche
ohnehin nicht mehr weit.
G.L.: Waehrend der Bonner Republik (und jetzt vielleicht auch
noch) galt ein strikter Unterschied zwischen Kultur und Medien
(Bildung, Unterhaltung) und dem harten Bereich Arbeit und
Technik. Deswegen gab es keine Nachfrage nach einer
'Philosophie des Computers' und fuehrte die Technikhermeneutik
ein Schattendasein. Das hat sich aber in den letzten Jahren
geaendert. Viele Medien sind freigegeben worden und nicht mehr
unter Staatkontrolle. Computer und Netze haben eine fast
allgemeine Verbreitung gefunden und damit bekommt die
Medientheorie auch einen anderen Stellenwert. Die begeisterte
Aufbruchstimmung um 1989 gibt es aber so nicht mehr. Sie hat
den Theorie- und Kunstbereich verlassen und treibt sich als
Hype in den alten Massenmedien herum. Trotzdem koennen die
'Dichter des Technischen' jetzt gute Positionen als Berater
der Macht bekommen. Dafuer aber muessen die Philosophen sich
in Marktpropheten verwandeln und als Trendforscher durchs
Leben gehen. Ist das das Schicksal deiner Kontrahenten? Und
was kommt nach der 'Theoriefiktion'? Wohl nicht eine science
fiction... Oder eher eine neue Kritikwelle (Netzkritik als
neueste Mode...)?
H.W.: Die Sache, denke ich, wird sich teilen: die einen werden
TV-Spots fuer die deutsche Telekom machen und Vortraege vor
Marketingleuten (das ist nicht fiction sondern fact), die
anderen werden ins Lager der kritischen Kritiker wechseln und
sagen, sie haetten es immer schon gewusst. Die Skepsis-Welle
ist bereits abgelaufen, das sehe ich auch so. Auch hier aber
wuerde ich sagen, dass die 'Positionen' weniger interessant
sind als die Modelle und Deutungen, die mit diesen Positionen
verbunden sind. Und wenn die Kritik nichts zu bieten hat als
die alten 'humanistischen' Gewissheiten (Beispiel Clifford
Stoll), wird sie so weit auch nicht kommen.
G.L.: Es gibt bisher noch keine Medientheorie der Computer,
nicht in Deutschland und auch nicht anderswo, das stellst du
auch in deiner Einfuehrung fest. Liegt das nicht vor allem
daran, das die Theoretiker selbst sich noch nicht in den
Netzen aufhalten und zoegern, sich dort einzurichten? Mit der
Wahl des Begriffes 'Docuverse' (von Ted Nelson) gibst du
meines Erachtens an, das Cyberspace fuer dich vor allem ein
Raum der Texte und Dokumente ist. In deinem Buch kommt es
nirgendwo vor, dass sich in den Netzen auch tatsaechlich
Menschen (und ihre kuenstliche Agenten) aufhalten. Du redest
von einem
'menschenfernen Universum' und davon, dass 'Kommunikation' als
Begriff zu kurz greift. Liegt das nicht vor allem daran, dass
das Netz fuer dich sowieso eine Sammlung von 'toten'
Informationen ist? Deine wichtigsten Quellen sind Derrida,
Lacan, Freud, Nietzsche usw., kombiniert mit der neuen
Fachliteratur. Warum ist deine Medientheorie der Computer so
fest verankert in dem Buchwissen aus dem Zeitalter vor den
Netzen? Welchen Konsens gibt es da mit den Leuten die du
kritisierst? Kann es sein, dass es ueberhaupt keinen
Paradigmenwechsel gibt und das Neue der Medien nur in den
Wiederkehr des Alten gipfelt? Dann kann ja das altvertraute
Theoriegeruest stehen bleiben!
H.W.: Ueberklar gesagt: In den Netzen halten sich keine
Menschen auf. Wenn ich einmal grob schaetze, gibt gibt es im
Netz zur Zeit 60% natuerlichsprachliche Texte in schriftlicher
Form, 20% Programme und Algorithmen, 10% numerische Daten, 10%
Bilder und 10% digitalisierte Toene - alles in allem 110%,
zehn mehr als hundert, wie es fuer den Hyperspace angemessen
ist. Und einige der schriftlich verfassten Texte, da hast Du
recht, sind zum sofortigen Verbrauch bestimmt und werden live
und in Realzeit dialogisch ausgetauscht. Insgesamt ist es ein
Schriftuniversum, da beisst die Maus keinen Faden ab.
Und wenn man fragt, was neu ist an dem ganzen, so scheint mir
dies gerade nicht die bilaterale Kommunikation zweier Partner
zu sein (als Neuauflage der Telephon- bzw. Fernschreiber-
Logik), und eben auch nicht die einzelnen Dokumente, sondern
vielmehr deren Anordnung in einem n-dimensionalen Raum, ihre
materiale Vernetzung durch Links und die Utopie einer
universellen Zugaenglichkeit, die mit dieser Anordnung
verbunden ist. Der Nelson-Begriff 'Docuverse' scheint mir dies
gut zusammenzufassen und ein genialer Vorgriff; und deshalb
habe ich ihn zum Titel gemacht. In der Tat glaube ich, dass es
sich eher um ein Wiedererstehen der Gutenberggalaxis als um
ihr Ende handelt. Nach 100 Jahren Herrschaft der Bilder gibt
es eine Explosion schriftlich verfasster Texte, und in meinem
Buch frage ich, warum dies geschieht.
Von dieser These abtrennen wuerde ich das Methodenproblem, mit
Hilfe welcher Theorien das neue Medium beschrieben werden
soll. Ueber etwas Neues sprechen bedeutet immer, 'alte
Kategorien', und im Zweifelsfall: Buchwissen, auf den neuen
Gegenstand anzuwenden; einfach weil die Sprache grundsaetzlich
die Sprache der Vergangenheit ist. Viel verdaechtiger ist mir
die gegenwaertig weitverbreitete 'Rhetorik des Neuen', die im
Begriff der Simulation nicht das ehrwuerdige Problem der
Aehnlichkeit, im Begriff der Virtuellen Realitaet nicht die
Realismusbehauptung und im Begriff der Daten nicht die
ontologischen Implikationen wiedererkennt. Das alte
Theoriegeruest kann keineswegs stehenbleiben. Die Leute, die
behaupten, es nassforsch eingerissen zu haben, aber werden
erstaunt feststellen, wieviel sie, ohne es zu wissen, davon
mitschleppen.
G.L.: Was vor allem nicht neu ist, ist die zynische
kapitalistische Logik die dieser Branche so beherrscht. Es
gibt dort noch wenig oekonomisches Bewusstsein. Aber das mit
der Kommunikation stimmt nach meiner Erfahrung so nicht. Wenn
sich 50.000 Leute an der Digitalen Stadt Amsterdam beteiligen
und hunderte gleichzeitig on-line sind, sich treffen, dort
Spiele spielen, diskutieren, e-mails schreiben usw, ist das
fuer mich erstmal eine Tatsache und keine Ansammlung von
Dokumenten. Es moegen multiple Persoenlichkeiten sein,
Avatars, gender-Hobbyisten, und vielleicht einige
artifiziellen Agenten dazwischen.
G.L.: Norbert Bolz ist derjenige, mir dem du dich am meisten
auseinandersetzt. Ist es vor allem das 'totalisierende' in
seinen Prophetien, was dich am meisten stoert ('das
Unwahre'...)? z.B. die feste Ueberzeugung ueber das Ende des
Gutenberg-Universums, den Sieg der Hypermedien und die Nicht-
Linearitaet? Bolz ist ein Lehrling von Jacob Taubes, kennt
sich in der deutschen Philosophie und der politischen
Theologie (Hobbes/Schmitt) bestens aus und ist ausserdem
Walter Benjamin-Spezialist. Dort liegt auch sein Ansatz in
Richtung einer Theorie der neuen Medien. Missbraucht er die
klassischen Quellen deiner Meinung nach? Oder sind sie
ueberhaupt nicht zu gebrauchen wenn es darum geht, die
technologische Entwicklungen vorherzusagen? Man koennte doch
sagen, gerade Norbert Bolz, verkoerpere die von dir
gewuenschte geistige Kontinuitaet und den Dialog zwischen den
alten und neuen Medien. Oder geht die Kritik zurueck auf Bolz'
Absage an die Aufklaerung und seine sonstigen post-modernen
Aussagen?
H.W.: Fast alles ja. Bolz soll ein wirklich gutes Buch ueber
Benjamin geschrieben haben (das ich zu meiner Schande nicht
kenne). Wenn er heute Benjamin verwendet, aber kuerzt er
dreiviertel der wirklich schwierigen Dimensionen weg (den
'Linken' Benjamin, den Metaphysiker, den Mystiker, den
Sprachphilosophen und die juedische Denktradition), bis er
jene schlichte Technik-Affirmation uebrigbehaelt, die er
brauchen kann. Bolz hat irgendwann kalt berechnet, dass diese
Republik einen Medienfuzzi braucht, der ihr in genuegend
gebildeten Worten sagt, was sie hoeren will, und es hat
funktioniert.
Im Buch benutze ich ihn als eine Art Boxsack, und das ist
natuerlich auch eine Stilisierung. Im Uebrigen gibt es auch
bei Bolz wirklich schoene Stellen; wenn er schreibt, diese
Gesellschaft habe sich entschlossen, "rein mit Fakten zu
konstruieren", so ist das sehr inspirierend, auch wenn man
seine affirmativen Folgerungen nicht akzeptiert.
G.L.: Immer wieder kommst du zurueck auf deine These, dass die
neuen Medien auf Sprache basiert sind. Nach Sherry Turkle's
Einteilung bist du bestimmt ein IBM-PC Modernist alter
Praegung, der die Segnungen des symbolisch-iconographischen
Apple-Windows 95-Postmodernismus noch nicht kennengelernt hat.
Anders gesagt: der alte Computer, der als Rechner bedient
werden musste, gegen die neue Bildmaschine mit der
zugaenglichen, demokratischen Benutzeroberflaeche. Umberto Eco
macht den Unterschied zwischen bildlosen, abstrakten,
protestantischen PCs und bebilderten Schirmen fuer die
katholische Apple-Gemeinde. Also, gib zu, du bist ein
protestantischer Modernist (wie ich), der dem Luther-
Gutenberg-Pakt angehoert! Offiziell also musst du dich zur
Buechergilde bekennen, als Hobby aber gehst du gerne ins
Kino... (H.W.: diese Unterscheidung ist super!).
Ganz im Ernst, du schreibst ja sogar, dass du die
Denkdiziplin, die noetig ist fuer das Lesen von linearen
Texten (Buecher), gutheisst. Du hast vor, 'die gesamte Technik
nach dem Muster der Sprache zu denken.' Und generell moechtest
du die uebliche Verbindung zwischen Denken und Computer in
Frage stellen. Das Denken ist nicht 'netzfoermig' und
verlaeuft erstmal nicht assoziativ, wie die Befuerwoerter von
WWW und Hypertext so gerne behaupten. Trotzdem, ich glaube,
dass die juengere Generation die 'Schrift' als 'bewusste
Beschraenkung' und 'restriktives System' nicht mehr einfach so
hinnimmt. Die akademische Buchkultur der 68-Generation und die
textbezogenen Diskussionen verschwinden langsam und ebenso der
Einfluss der 'text based intellectuals'. Die Anzahl sowohl der
alten wie der neuen Medien, die um unsere Aufmerksamkeit
(Diziplin, wie du willst...) konkurrieren, nimmt staendig zu
und das Buch ist nicht so in Mode unter den
Aufschreibesystemen. Deine Warnungen moegen ja richtig sein,
die Gesellschaft aber entwickelt sich in eine andere Richtung.
Die Schrift wird damit auch immer weniger die internalisierte
Stimme der Macht. Sie verliert erstmals in ihrer Geschichte
einen Teil ihrer Autoritaet, als Stimme Gottes, des Gesetzes
und des Lehrers.
H.W.: Das letzte zuerst. Dass die Schrift die Stimme Gottes
verliert, bedeutet nicht, dass diese verstummt und dass Gott
resigniert aufgegeben haette. Die erste Aufgabe waere also,
diese Stimme auch dort in Wirkung zu zeigen, wo sie scheinbar
nicht spricht; Kittler z.B. tut dies, wenn er auf die
Imperative hinweist, die der Technik selbst eingeschrieben
sind und die sich haptisch-direkt oder via Handbuch (Schrift!)
dem 'user' aufnoetigen. Kurz: ich glaube ebenfalls, dass
alternative Aufschreibesysteme an die Stelle der linearen
Schrift getreten sind. Das allerdings passiert nicht
gegenwaertig, sondern ist bereits um 1900, mit dem
Machtantritt der technischen Bilder, passiert. Du hast es
gelesen: vor allem und an erster Stelle kritisiere ich die
Gewohnheit der Mediengeschichtsschreibung, die Computer und
die Schrift unmittelbar zu konfrontieren, und die lange Phase
der Bildmedien schlicht zu ueberspringen. Das Phaenomen ist
doch eben, dass die unsinnlichen Rechner (und auch die paar
Icons machen sie nicht sinnlich) an die Stelle eines
ueberwaeltigend sinnlichen Bilderuniversums treten, die
Frustration mit den bugs an die Stelle der 'uses and
gratifications' (in diesen Kategorien hat man die Bildmedien
doch immer gedacht!) und ein, wie die Semiotiker sagen:
neuerlich arbitraeres System an die Stelle eines motivierten.
Und das, so denke ich, ist der Rahmen, insgesamt nach dem
Verhaeltnis zwischen den Bildern und den Rechnern zu fragen.
Du hast recht: ich denke nicht, dass die Schrift abgeloest
worden ist, weil sie, zu arm und zu wenig komplex, von den
anderen Medien 'ueberboten' worden waere. Das aber heisst
ausdruecklich nicht, dass ich, wie Du schreibst, eine
Rueckkehr zur linearen Disziplin der Schrift predige. Man muss
zumindest drei Ebenen unterscheiden: 1.) das historische
Schicksal der Schrift, 2.) die Frage nach den Bildern, und 3.)
meine These, dass man das n-dimensionale Netz von der Sprache
her begreifen muss.
Ueber die Bilder und die Sprache werden wir gleich sprechen.
Schon hier aber ist mir wichtig festzuhalten, dass ich nicht
deshalb immer wieder auf die Sprache zurueckkomme, weil ich
die Sprache hoch, und die Bilder gering schaetze, oder weil es
im WWW so viele schriftliche Texte gibt. Wichtig vielmehr
erscheint mir, dass es eine strukturelle Parallele gibt
zwischen dem Datennetz und der Sprache - als zwei semiotischen
Gesamt-Anordnungen.
Die Struktur des Netzes selbst, das ist meine zentrale These,
imitiert die Struktur der Sprache. Und zwar der sprachlichen
Struktur, die in unserem Koepfen abgelegt ist. Die Sprache
selbst, das lehrt uns die Sprachwissenschaft, ist ein n-
dimensionales Netz von Verweisen; Bedeutungen entstehen durch
Abstossung in einem n-dimensionalen Raum; um diese Parallele
zwischen Netz und Sprache geht es mir, und um die neue
Perspektive, die sich daraus ergibt.
Und als vierten Punkt gibt es die These, dass grundsaetzlich
alle Technik von der Sprache her gedacht werden muss. Ich
teile diese Auffassung mit Tholen, der auf Lacan und Derrida
zurueckgeht, und ich wuerde Leroi-Gourhan als einen
handgreiflicheren und zugaenglicheren Zeugen benennen. Sie
eroeffnet die Moeglichkeit, die beiden Seiten der Medien
zusammenzudenken: als symbolische Maschinen sind sie nicht
einerseits symbolisch und andererseits technisch, sondern
beides hat miteinander zu tun, und Aufgabe der Theorie ist es,
diesen Konnex exakt zu beschreiben. Diese Diskussion steckt
noch in den Kinderschuhen; aber Begriffe wie 'Einschreibung'
ueberbruecken bereits die Differenz, und gerade deshalb sind
sie spannend.
G.L.: Was mir aufgefallen ist, ist das Fehlen Paul Virilios,
seiner Geschichte der Medien als Beschleunigung und seiner
aktuellen Kritik der Netze, die du vielleicht teilst. Das
Datenuniversum mag zur Unifizierung fuehren, das digitale
Grundalphabet als 'Phantasie des Einen' abgetan werden und das
'global village' sowieso nicht existieren, die Beschleunigung
im Informationsaustausch und in der Kommunikation aber
erscheinen mir durchaus als real. Jenseits des Hypes und der
Macken der Maschinen ist das doch der Effekt einer Vernetzung
der Bueromaschinen. Die Beziehung zwischen dem Aufkommen der
oeffentlichen Computernetze und der Globalisierung der
Wirtschaft ist bisher auch noch nicht gedacht worden. Immer
nur: Sprache, Mathematik, Philosophie. Alles formuliert
in einer sehr engen, abstrakten und sicheren Terminologie. Ist
das nicht ein Zeichen der 'Isolation' des Denkens, ein
Aspekt, den du dem Computer und seinen Visionaeren so
vorwirfst?
H.W.: Die fruehen Sachen von Virilio finde ich prima, die
spaeteren, soweit ich sie kenne, immer weniger relevant. Es
wuerde tatsaechlich lohnen, das Netz in Termen der Zeit und
der Geschwindigkeit zu denken. Ich denke aber, dass man zu
verblueffenden Ergebnissen kaeme.
Die groesste Beschleunigung ist, wenn ich gleichzeitig (!)
Millionen von Adressaten erreiche (wie die Massenmedien dies
tun), und nicht, wenn ich in der bilateralen Kommunikation
einen Tag gegenueber dem Brief einspare oder ein paar
Millisekunden gegenueber Fernschreiber oder Fax. Und relevant,
denke ich, waere die gesamte Zeitstruktur, also inklusive der
realen Such- und Zugriffszeiten, die ja alles andere als kurz
sind. Die Logik der Schrift scheint mir immer eine Zeit-
Versetzung zu beinhalten, weil sie den Zeitpunkt der
Einschreibung und den Zeitpunkt der Rezeption grundsaetzlich
trennt. Und dies eben auch im Datennetz. Was sich real
aendert, aber ist die Zugriffszeit auf archivierte
Materialien. Wenn Bush sagt, unser Problem sei "our ineptitude
in getting at the record", so aendert sich (mit der
Zugriffszeit) vor allem das Volumen des erreichbaren
Materials. Und das wiederum ist keine zeitliche Groesse...
Deinen Aerger, dass die Theorie z.B. die Globalisierung der
Wirtschaft gegenwaertig ausgeblendet, teile ich vollkommen.
Ich denke, dies ist ebenfalls eine Folge der Entpolitisierung
und wird mit ihr korrigiert werden muessen. Auf einer Tagung
habe ich den schuechternen Versuch gemacht, zumindest den
Zusammenhang zu benennen, der zwischen der globalen
Arbeitsteilung und dem Kommunikationsbedarf, und damit der
Entwicklung der Medien besteht. Dafuer aber bin ich
entsetzlich gepruegelt worden, weil man der Meinung war, solch
marxistischen Restbestaende seien inakzeptabel, wo man doch
inzwischen wisse, dass nicht die Oekonomie der Motor aller
Dinge sei (- das ist aber nach wie vor so! G.L. -)
Wer nicht jeden Paradigmenwechsel klaglos mitmacht, hat noch
nicht begriffen, worum es geht. Aber vielleicht hast Du recht,
und es wuerde lohnen, von den lichten Hoehen von "Sprache,
Mathematik und Philosophie" dann und wann herabzusteigen...
G.L.: Ich glaube, wie du, dass es fuer die Computer und ihre
Entwicklung viel besser waere, das 'Projekt Docuverse' als ein
'partikulares Medium' zu betrachten und die utopischen Traeume
vom universalen Medium, vom Datengesamtkunstwerk usw., als
notwendige Rituale der Einweihungsphase anzusehen. Es geht
also darum, die sauberen, totalitaeren Vorstellungen zu
verschmutzen und temporaere, hybride Medienverbuende zu
schmieden. Du gibst ein schoenes Beispiel, wie dramatisch die
Digitalisierung der Filme enden koennte, wenn man irgendwann
mal rausfindet wird, dass auch Bytes zerfallen. Es wird aber
nicht nur digitalisiert fuer Archivierungszwecke, sondern auch
um die Distribution von Ideen, Texte, Bildern, schneller und
billiger zu machen. Du musst doch was ueber Netze als
Vertriebssyteme sagen, oder spielt das ewige Hin und Her fuer
dich keine entscheidene Rolle? Netze koennen dafuer sogar als
Metapher gesehen werden und sind in dem Sinne nicht mal 'real'
sondern verweisen auf etwas anderes.
H.W.: Ich sehe das Archiv und das Hin und Her nicht als zwei
getrennte Betriebs-Modi an, sondern als die notwendige
Verschraenkung von Sprechen und Sprache (Diskurs und
Struktur), die ich oben als ein zentrales Problem der
Theoriebildung genannt habe. Alle und jede Kommunikation
operiert in Wechselbeziehung mit einem Archiv, ob dieses nun
als 'Sprache' in den Koepfen der Leute abgelegt ist, oder als
Videothek in einem Holzregal. Wenn die Distribution also
schneller und billiger wird, so beeinflusst dies zunaechst
diese Wechselbeziehung, und damit die Struktur des Archivs.
Wissensbestaende, die bis dahin getrennt waren (z.B. Deine und
meine), werden in Kontakt gebracht und zu 0,3%
aufeinanderzubewegt oder auch nicht.
Zudem muss man sich ueberlegen, ob die Distribution bisher
langsam und teuer war, und woran man dies misst. Viele
'Verlangsamungen' der Kommunikation, wie z.B. die Gewohnheit
der Verlage, nur bestimmte Manuskripte zu drucken, andere aber
nicht, haben ja eine praezise Funktion in der Oekonomie der
Diskurse, und wenn solche Sperren fallen, muss man fragen,
welche neuen Gliederungen (und Ausschluesse) an ihre Stelle
treten. Ich glaube in keiner Weise, dass Kommunikation per se
etwas gutes ist und wuensche mancher Ethnie, sie moege noch
einige Zeit von ihr (und der Globalisierung) abgeschnitten
sein; ich glaube nicht wie Habermas, dass Kommunikation
zwangslaeufig Konsense produziert, oder wenn, dann eben
zwangslaeufig im woertlichen Sinn von Zwang, und ich glaube
nicht, dass die Ideen bisher vor allem
Geschwindigkeitsprobleme hatten. In jedem Fall aber aendern
sich die Strukturen. Und das ist tatsaechlich interessant.
G.L.: Im Moment werden 100.000 Stunden Betacam-SP Video
aufgenommen mit den Zeugnissen der Ueberlebenden des
Holocaust. Das 'Spielberg-Projekt' hat zum Ziel, dieses
Material an fuenf Orten zu lagern, zu digitalisieren, mit
Links zu versehen und auf moeglichst vielen platforms
zugaenglich zu machen (CD-ROMs, Video, Fernsehen, usw.). Das
Ziel: kollektives Gedaechtnis unter den Bedingungen der neuen
Medien zu entwickeln. Hier werden der Computer und die Netze
eindeutig als Archiv benutzt, als Bibliothek und
Referenzsystem, genau in dem Sinne wie du das meinst, oder?
Anderseits wird das Netz als Enzyklopaedie ein grossartiger
Fehlversuch sein, alle Kenntnisse der Welt in sich
aufzunehmen. Aber die Suchoptionen funktionieren im Moment
schon relativ gut, als Hilfsmittel bei der Durchforschung von
grossen Wissensbestaenden, wie zum Beispiel zum Thema
Holocaust. Kollektives Gedaechtnis heisst fuer mich, dafuer zu
sorgen, dass solches Wissen ausserhalb der Maschinen und
Archive in die lebendigen Menschen und die gesellschaftlichen
Rituale und Umgangsformen eingelagert wird. Dieses Gedaechtnis
koennte staendig reproduziert werden, lebendig gehalten werden,
in immer neuen Standards, technischen wie sozialen. Warum
benutzt du den Begriff 'Gedaechtnismaschine' nicht im Bezug
auf Archiv und Geschichte, sondern nur in einer Dialektik
zwischen Individuum und Maschine, als kognitiven Prozess?
H.W.: Die letzte Frage verstehe ich nicht, weil ich denke,
meinen Text gerade nicht mit Blick auf das Individuum
konstruiert zu haben, sondern mit Blick auf das kollektive
Gedaechtnis und den intersubjektiven Raum der Technik und der
Diskurse.
Generell aber scheint es mir zwei Moeglichkeiten zu geben:
entweder ich denke das Datennetz von den Leuten her, die es
benutzen, dann bleibt im Grunde alles beim Alten: es gibt ein
neues Aufschreibesystem, 'eigentlich' aber geht es nach wie
vor darum, was die Leute von diesem Aufschreibesystem lernen,
ob sie also internalisieren, dass der Holocaust, den Du
wahrscheinlich nicht zufaellig als Beispiel waehlst, etwas
Schreckliches ist. Und wenn, verzeih mir den Zynismus, 100.000
Stunden Betacam-SP Video dazu nicht ausreichen, dann muessen
es eben 1.000.000 Stunden Betacam sein. (Ich setze wenig
Hoffnung in solche quantitativen Kraftakte).
Die zweite Moeglichkeit ist die Meinung der Technik-Fraktion,
dass es eigentlich darum geht, gerade die 'tote', die Schrift-
und Technikseite der Medien zu denken. Verabsolutiert fuehrt
sie in jenen Technik-Fetischismus, der, wie ich gesagt habe,
selbst Verdraengungscharakter hat. Irgendetwas aber ist dran
an dieser Position. Die Medien sind keineswegs nur Mittel fuer
feststehende Zwecke, sondern eine eigene Struktur; und zwar
eine Struktur, die die Einschreibung in die Koepfe nicht nur
unterstuetzt, sondern mit ihr auch in Konkurrenz tritt.
Und dies ist ein weiterer Grund fuer mich, die Sache von der
Sprache her zu denken. Im Fall der Sprache kann man relativ
klar beschreiben, auf welche Weise Diskurs (das Sprechen) und
System (das Archiv/die Sprache) zusammenhaengen. Je
technischer die Medien aber werden, desto komplizierter und
indirekter wird diese Wechselbeziehung; die Beziehung zwischen
dem kollektiven Gedaechtnis und dem individuellen wird immer
prekaerer, das kollektive Gedaechtnis (niedergelegt in den
Aufschreibesystemen, in der Struktur der Technik und der
Institutionen) wird immer klueger, das zweite, individuelle
nicht im selben Mass. Was Guenther Anders die 'prometaeische
Scham' nennt, ist die reale Erfahrung, dass diese Schere
schmerzlich aufklafft.
Wirklich auf dem Stand der Debatte ist der Einzele nur in dem
winzigen Teilgebiet, das die Arbeitsteilung ihm zugewiesen hat
(und auch das nur im besten Fall); der Rest der Welt entzieht
sich ihm, und er muss sich mit groben Vereinfachungen
behelfen, wie sie die traditionellen Massenmedien unter die
Leute bringen.
Ich kann nun versuchen, bestimmte zentrale Wissensbestaende zu
definieren, die unbedingt in allen Koepfen vorhanden sein
muessen (Beispiel Holocaust), an der eigentlichen Problematik
aber aendert dies nichts.
Das ist die strukturelle Frustration, die, nach meiner
Auffassung, die Entwicklung der Medien vorantreibt. Die
Sprache setzte auf die Allgemeinheit der Begriffe, die
traditionellen Massenmedien nahmen den Anspruch auf
Flaechendeckung zurueck und setzten darauf bestimmte sehr
reduzierte, aber zentrale Wissensbestaende (Liebe, Moral,
Verbrechen, 'Politik') in den Koepfen zu verankern; und die
Computer schliesslich setzen auf das Netz als ein extensives
Textuniversum, das die arbeitsteilige, unendlich verzweigte
Gesellschaft auf einem einheitlichen 'Tableau' repraesentieren
soll. Jedem seine Homepage und dazwischen die einheitliche
Architektur der Links...
Von dort aus, und nun treffen sich Dein und mein Argument
wieder, kann man dann nach der Wechselbeziehung zwischen den
Medien und den Koepfen fragen. Man kann fragen, ob die 100.000
Stunden Betacam ein Versuch sind, den Koepfen eine Erkenntnis
tatsaechlich aufzunoetigen, oder ob sie eine Art Monument
sind, eine Ersatzstruktur im Aussenraum, die den Koepfen die
Rezeption gerade erspart. Kein Mensch wird mehr als 100
Stunden solchen Interview-Materials tatsaechlich zur Kenntnis
nehmen koennen. Die restlichen 99.900 Stunden wird er also als
eine Art Ausrufezeichen hinter den 100 Stunden verstehen, als
ein Zeichen, dass die Urheber des Projekts es wirklich und
tatsaechlich ernstmeinen, oder als eine Flaeche, aus der nach
Kriterien ausgewaehlt werden kann. Aber kann es um Auswahl
gehen? Und stell dir die furchtbare Schlagwort-Maschine vor,
die dieses Videomaterial erschliesst.
G.L.: Ein Teil des Buches, der mir gut gefaellt, ist die
Beschreibung von Leroi-Gourhan's 'Hand und Wort' und die
'Maschinen des kollektiven Gedaechtnisses', ihre Verbindung
zur Evolution, und einer Theorie der Technik, 'die die Technik
in einem Dreieck zwischen Naturgeschichte, Praxen und Sprache
neu lokalisiert.' Bei Leroi-Gourhan 'tritt das soziale
Gedaechtnis (eng verknuepft mit den Techniken und der Sprache)
an die Stelle der Instinktbindung.' Siehst du dort
Verbindungen mit der Theorie der 'Memes', die spaeter von
Richard Dawkins entwickelt wurde? Wie sieht fuer dich die
'Zukunft der Evolution' in dieser Hinsicht aus? Macht es Sinn,
eine biologische Metapher wie 'Evolution' fuer die weitere
Entwicklung der Technik und der Maschinen des kollektiven
Gedaechtnisses zu verwenden?
H.W.: Du stoesst in eine weitere meiner Wissensluecken:
Dawkins kenne ich nicht. Wenn alle, die den Evolutionsbegriff
verwenden, sich klar darueber waeren, dass sie eine Metapher
verwenden, waere das Problem vielleicht geringer. Die
Schwierigkeit scheint mir zu sein, dass in der Rede von der
Evolution, und mehr noch im Fall der allseits beliebten
'Emergenz', ein sehr richtiges und ein idiotisches Argument
sich mischen: Sehr richtig scheint mir, den Blick auf die
Tatsache zu lenken, dass die Technikentwicklung ein riesiger
Makro-Vorgang ist, der sich - das ist die hauptsaechliche
Eigenschaft der Evolution - einer bewussten Lenkung weitgehend
entzieht und alle menschlichen Zwecke ueberschreitet.
Idiotisch erscheint mir, daraus den Schluss zu ziehen, dass
damit jeder lenkende Eingriff sinnlos und jede noch so geringe
Abstandnahme (durch Bewusstsein oder was auch immer) zum
Scheitern verurteilt sei. Hier scheint mir ein urspruenglich
skeptisches Argument -verabsolutiert- in ein affirmatives
umzuschlagen, mit katastrophalen Konsequenzen fuer die
Theorie.
Jede noch so naive oekologische Ueberlegung lehrt uns, dass
man Batterien vielleicht nicht unbedingt aus Cadmium machen
sollte, und aus der Landwirtschaft keine Unterabteilung der
Chemieindustrie. Man stoesst damit wieder auf jene
komplizierten und unattraktiven Fragen der Politik, die man
gerade verabschiedet zu haben glaubte. In jedem Fall scheint
es mir wichtig, nicht von einer Technik, sondern von
konkurrierenden Techniken (im Plural) auszugehen. Und dann
wird es schwierig mit dem Begriff der Evolution.
Und hier kann man eben von Leroi-Gourhan lernen, was bei
Teilhard de Chardin das Problem ist: beide gehen vom
Evolutionsbegriff aus, waehrend der zweite aber in eine
unifizierende und dann konsequenterweise: religioese
Apotheose steuern muss, orientiert Leroi-Gourhan auf das
kollektive Gedaechtnis, als eine plastische Struktur.
Einerseits sedimentiert und von einem erheblichen
Beharrungsvermoegen, andererseits aber eben doch abhaengig vom
Verlauf der konkreten Praxen. Wieder also geht es um die
Wechselbeziehung zwischen Diskurs und System.
G.L.: Speichern als Begriff ist dir zu technisch, zu neutral
und nicht komplex genug. Du bevorzugst das 'System der
Sprache', in dem Verdichtung und Vergessen eine wichtige Rolle
spielen. Diese Begriffe oder Vorgaenge haben in der bisherigen
deutschen Medientheorie keine so grosse Rolle gespielt. Ganz
praktisch koennte die Umsetzung dieser Begriffe heissen, dass
viel, was in den Netzen passiert und abgelegt wird, mit einem
Verfallsdatum versehen werden sollte, und dass nicht 'content'
sondern 'context' oder 'point of view' die wertvollsten Waren
sein werden. Es geht dabei aber um eine Machtfrage: Wer
bestimmt, was data trash ist und was nicht mit einem
Verfallsdatum versehen werden darf, bzw. wer fuer mich die
'wesentlichen' Informationen herausfiltert. Du sagst, das Netz
soll einsehen, dass es einen Diskurs produzierst. Aber das
geht doch nur mit einem Gewaltakt, die heutige Vielfalt zu
elimieren und die eindeutigen Filter zu installieren die
spaeter den Diskurs ausmachen werden? Oder gab es das
beruehmt/befuerchtete Chaos des 'many-to-many' im Internet
nie?
H.W.: Ohne Verfallsdaten wird es nicht gehen, aber das scheint
mir gar nicht der zentrale Punkt zu sein. Meine Prognose ist,
dass sich absolut naturwuechsig Hierarchisierungsprozesse
durchsetzen werden, teils weil es einzelnen maechtigen
Anbietern gelingen wird, wichtige Orte im Netz zu etablieren
(voellig parallel zur Okkupation der Innenstaedte), teils weil
eine staendige Abstimmung mit den Fuessen (bzw. mit der Maus)
stattfindet, welche Regionen des Netzes zentral sind und
welche peripher. Auch Informationen, die nicht geloescht
werden, koennen an den Rand geraten, wenn niemand sie mehr zur
Kenntnis nimmt. Und entsprechend wird es zunehmend nicht mehr
darum gehen, im Netz ueberhaupt repraesentiert - also 'da' -zu
sein, sondern Nutzerbewegungen anzuziehen, und vor allem
Links, die auf mein Angebot zeigen.
Beide Prozesse laufen naturwuechsig ab, und das heisst
naturwuechsig-machtgesteuert. Kein Mensch reflektiert
gegenwaertig, welche Machtzusammenballung in den Search-
Engines stattfindet. (Kein Mensch, ausser der Boerse, die
Yahoo! sofort beim Einstieg unglaublich hoch bewertet hat).
Und wenn Du oben sagst, die Suchoptionen funktionierten im
Moment schon relativ gut, dann abstrahierst du von der
Tatsache, dass kein Mensch weiss, welchen Teil des Netzes die
Engines auswerten und erschliessen, und welche unendlich
vielen Teile nicht, welche Strategien es gibt, um innerhalb
der Engines moeglichst gut repraesentiert zu sein und welche
Planungen hier laengerfristig laufen. Wir glauben, die Engines
durchsuchen 'das Netz' als ganzes, das aber ist mit Sicherheit
nicht der Fall.
Und - super spannend: - die Frage nach 'context' und 'point of
view'. Meines Wissens gibt es, zumindest zur Zeit, keine
Algorithmen, die context und point of view im Netz sinnvoll
realisieren wuerden. Und dies scheint mir alles andere als ein
Zufall zu sein.
Der Kontextbegriff setzt zunaechst relativ stabile
Nachbarschafts- (Kontiguitaets-) Verhaeltnisse voraus; in
linearen Texten die Anreihung, und in der 3-dimensionalen
Realitaet das konkrete Nebeneinander im Raum. Auffaellig ist
nun, dass dieser Typus von Nachbarschaft der n-dimensionalen
Netzlogik und dem Ideal sofortiger Veraenderbarkeit diametral
widerspricht. Nehme ich die Struktur der Links als Basis, so
ist Kontext, was ueber Links direkt zugaenglich ist. Werden
die Links umgebaut, bricht der Kontext zusammen.
Die zweite Moeglichkeit ist, vom Begriff eines semantischen
Kontextes auszugehen. Dann ist es letztlich das System der
Sprache, z.B. in der Formulierung von Such-Begriffen, das
einen bestimmten textuellen Umraum erschliesst.
Und fuer den point of view gilt das selbe: ein point of view
scheint mir ebenfalls nur vermittelt ueber das semantische
System der Sprache gegeben zu sein. Selbst sehr schlichte
Aequivalente wie geographische oder regionale Eingrenzungen
lassen die Search-Engines gegenwaertig nicht zu. Und taeten
sie es, waere auch das nur ein relativ willkuerliches
Kriterium.
Wie siehst Du die Moeglichkeiten, Kontext und point of view im
Netz staerker zu machen?
G.L.: Hauptsache bleibt fuer mich vorerst die access-Politik
und die Demokratisierung dieser Medien, zweitens sollte es
viel mehr Redakteure im Netz geben und erst an dritter Stelle
kommt die am meisten wertvolle aller Kenntnisse innerhalb der
Netze, den Kontext. Das hat etwas privates, fast intimes, sich
ohne manipuliert zu werden trotzdem steuern zu lassen. Es kann
da nicht nur um rationelle Kriterien gehen.
Du erwaehnst die 'Sprachkrise um 1900' und sagst, dass
inzwischen eine vergleichbare 'Krise der Bilder' eingetreten
ist.. Ist es aber nicht vor allem das (deutsche?) autoritaere
Buergertum, das die Bilderflut nicht abkann und, wie du sagst,
zutiefst irritiert ist, dass 'das' Fernsehen nicht mehr mit
einer Stimme spricht; eine aeltere Lehrerschicht, Die 'Zeit'-
Leser, die auch schon das Zappen nicht geniessen konnten und
sich nach Ruhe, Ordnung und Uebersicht in der Medienlandschaft
sehnen. In Ost-Europa sieht man das ja aus ganz anderer Sicht
und nimmt das nichtssagende Pulp-Info-Entertainment der
Privatsender gerne in Kauf. Nur nicht Die Eine Stimme der
Partei! Begruesst du nicht die Tatsache, dass die Macht der
Bilder, durch ihre Verbreitung, tendenziell abnimmt? Das
'Grauen vor der Arbitraritaet' hat mit der Verbreitung dieser
Medien zu tun, mit ihrer 'dispersion'. Zurecht schreibst du:
'Alle Mediengeschichte ist ein Versuch, aus dieser mehr als
unkomfortablen Situation zu entkommen' und dann beschreibst du
den Zykluscharakter, von der Euphorie ueber die Verbreitung
zur Enttaeuschung.
H.W.: Nun sind wir also angekommen bei der Rolle der Bilder.
Wenn man die gegenwaertige mediengeschichtliche Situation
analysieren will, so muss man zunaechst fragen, ob der
Computer ein neues Bildmedium ist, das an die Tradition der
technischen Bilder (Photographie, Film, TV) anschliesst, oder
ob er aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften mit dieser
Tradition bricht. Und meine Meinung ist sehr eindeutig, dass
man mit Computern zwar auch Bilder produzieren kann, dass
diese aber eher ein Kraftakt sind (das zeigt der exorbitante
Ressourcen-Bedarf), und keineswegs ihre Staerke.
Meine Programmierer-Vergangenheit sagt mir, dass der Computer
ein Medium der abstrakten Strukturen ist, der Programm-
Architekturen und jener Algorithmen, die letztlich auch hinter
den digitalen Bildern stehen. Dem Computer ist es voellig
gleichgueltig, ob es schliesslich Bilder sind, die auf der
Oberflaeche des Ausgabe-Schirmes erscheinen. Er selbst kann
mit dem Bildcharakter der Bilder nichts anfangen (so gibt es
keine sinnvollen Algorithmen der Gestalterkennung oder der
automaitschen Verwaltung von Bildinhalten), die 2-dimensionale
Ausgabe zielt nur auf die Sehgewohnheiten des Users ab.
Ich sage deshalb, dass der gegenwaertige Hype um digitale
Bilder und Multimedia ein Uebergangsphaenomen ist, eine
historische Kompromissbildung zwischen dem Bilderuniversum,
das in die Krise geraten ist, und dem neuen abstrakten und
struktur-orientierten System der Rechner.
Und wenn das so ist, denke ich, muss man fragen, was den
Bildern zugestossen sein koennte. Die uebliche Antwort ist,
dass sie das Vertrauen des Publikums verloren haben, weil sie
digital manipulierbar geworden sind. Das mag ein Faktor sein.
Meine Meinung aber ist, dass sie das Vertrauen vor allem
deshalb verloren haben, weil sie so viele geworden sind, dass
sie sich aufschichten, und zunehmend das Schema, das Muster
hervortritt. Damit verlieren die Bilder die Konkretion, die
konstitutiv fuer ihr Funktionieren war.
Jeder, der zappt, kennt das Phaenomen: egal wie viele Kanaele
es sind: das Fernsehen erscheint als eine einheitliche Flaeche
relativ weniger, sehr haeufig wiederholter Schemata, und unter
der konkretistischen Oberflaeche tritt der Sprachcharakter der
Bilder hervor.
Eine zweite Frage ist, wem diese Erfahrung gegenwaertig
zugaenglich ist. Die Kulturkonservativen, die du erwaehnst,
haben es schon immer gesagt, aber etwas anderes gemeint. Sie
sind tatsaechlich bei der linearen Schrift haengengeblieben -
zumindest mit ihrem Ich-Ideal -, oder bei jener
unappetitlichen Komplementaer-Konstruktion aus 'ernster
Arbeit' (Schrift/Theorie) und Erholung (Oper/Kino/TV). Ueber
die zweite Versuchsgruppe, die Leute in Ost-Europa, kann ich
mangels Erfahrung wenig sagen. Ich denke, dass es eine Weile
braucht, bis man mit dem TV-pulp 'durch' ist, und die Frage
waere einfach, was dann dort passiert.
Das Phaenomen hier im Westen jedenfalls ist, dass viele Leute
sich auf die Computer stuerzen. Und dafuer haben sie nur exakt
die Freizeit zur Verfuegung, die sie bisher vor dem TV
verbracht haben. Es findet also tatsaechlich eine Abloesung
statt, trotz der riesigen Unterschiede in der Struktur beider
'Medien' und der jeweiligen uses and gratifications. Und
diesen Wechsel gilt es zu erklaeren.
G.L.: Ploetzlich aber machst du eine dann eine fuer mich
unerwartete Bewegung: statt Fortschritt oder Zyklus siehst du
im Computer ein fast regressives Element. Du sagst: 'Der
Bildcharakter ist den Rechner vollstaendig unzugaenglich.' Die
digitalen Bilder sind eher Tor, Zugang, Oberflaeche,
Illustration, und nicht Bild, wie Photo oder Film. Jetzt, wo
alle Welt fieberhaft an der Synthese von Internet und
Fernsehen arbeitet, sagst du, der Computer habe ganz andere
Eigenschaften. Der Computer sei zwangslaeufig
isolationistisch, auf Sprache eingestellt, abstrakt und 'immer
im Verdacht, das Wesentliche abzuschneiden', waehrend die
kontextuellen und mimetischen Medien wie Photographie und Film
konkret und komplex seien. Kannst du vielleicht den
Optionenhaendlern der Medienbranche verraten, was Sache ist?
Ist Multimedia eine Sackgasse? Warum irren sich denn so vielen
Millionen von Leuten? Das kann ja gut der Fall sein... Ich
halte von 'Multimedia' auch nicht sehr viel. Was ich aber mag,
ist der Hobby- und Bastlercharakter des Computers. Filme
produzieren ist etwas fuer die ganz, ganz wenigen. Beim Film
ist man per Definition Zuschauer.
Ueberhaupt erwaehnst du nirgends die Video- und Camcorder-
Revolution. Film ist fuer dich ein klassischer, geschlossener
Diskurs der Theoretiker und Kritiker.
Medien generell produzieren fuer dich immmer nur 'Diskurs' und
nie 'Oeffentlichkeit' (an denen viele teilhaben). Es ist nach
100 Jahren Filmgeschichte ja sehr einfach zu behaupten, Film
und die ganzen Bildmedien haben eben 'Kontext' und die Rechner
dagegen sind 'isolationistisch', vor allem wenn man bei dir in
den Netzen nur Daten vorfindet und keinen anderen user... Und
wenn es dem Computer an Kontext fehlt, dann koennte man/frau
den doch einfach erfinden und erstellen? Oder liegt es in der
'Natur' dieses Objektes? Warum z.B. sagt du, 'als Metamedium
ist der Computer allein'? (H.W.: das ist an der entsprechenden
Stelle anders gemeint). Ich sehe nur mehr und mehr
Randapparaturen kommen (wie Scanner und Mikrophone, kleine
Kamera-Augen usw.) und eine schrittweise Eingliederung
(sprich: Vernetzung) in die Alltagswelt, ihre Medien, Archive
und Verhaltensweisen, weg aus dem Labor (und dem Buero...).
H.W.: Deine These hat einiges fuer sich. Trotzdem moechte ich
(evangelisch-bilderfeindlich, wie du mich entlarvt hast)
darauf beharren, dass die unterschiedlichen 'Anwendungen' (ein
unglaubliches Wort! Das gibts sonst nur im Medizin- und
Baederbereich!) unterschiedlich viel mit dem Medium selbst zu
tun haben. Hart gesagt kann man mit einem Kofferradio auch
Naegel in die Wand schlagen.
Und wenn viele Leute zu basteln anfangen, so scheint mir das
grundsaetzliche Problem zu sein, in welchem Verhaeltnis das
Basteln zu den strukturierenden Vorgaben z.B. der benutzten
Software steht. Aehnlich wie beim Malbuch und bei der
vorgedruckten Laubsaege-Vorlage, scheint mir die benutzte
Software fuenfzigmal intelligenter als jede User-Aktivitaet,
die hardware hundertmal intelligenter, und wenn diese Dis-
krepanz nicht zu Bewusstsein kommt, so nur deshalb, weil beide
sich als universell gebaerden, und die Kraft, mit der sie die
Aktivitaeten des Users vorstrukturieren, verleugnen. Im
uebrigen ist auch der Kinozuschauer keineswegs passiv, nur
weil er nicht herumrennt und (im besten Fall) nichts sagt. Die
Kinotheorie hat gezeigt, dass er dem Gezeigten mit einem
staendigen Strom von Phantasien begegnet, was den Unterschied
zwischen interaktiven und nicht-interaktiven Medien zumindest
irritiert.
Windows und Word scheinen mir deshalb Massenmedien zu sein,
weil sie Millionen von Nutzern die gleiche 'Welt' aufnoetigen.
Welche Texte die einzelnen Nutzer dann schreiben, ist
demgegenueber fast peripher.
Aber ich will nicht nur widersprechen: Ich denke auch, dass
die Rechner mit dem Alltag zunehmend verschmelzen und dass die
Fuelle von Peripheriegeraeten eine Vernetzung mit den Praxen
und Alltagsvollzuegen bedeuten. Wie aber bringen wir dies in
eine Medientheorie der Computer ein? Kann man diese
Veraenderung rein von den Leuten her denken, User statt
Texte/Maschinen und Oeffentlichkeit statt Diskurs? Veraendert
sich die Kontaktflaeche zwischen beiden Sphaeren? Und bist Du
der Meinung, dass die kalte Spaere der Texte/Maschinen sich
auf diesem Wege langsam erwaermt?
G.L.: Nein, nicht ueber die Bildschiene. Die Computernetze im
Moment haben wie nie zuvor die kollektive Einbildungskraft
mobilisiert (trotz Hype und Geschaeft). Die Erwaermung wird
eben von den Menschen kommen, die man dort trifft, nicht von
den Bildern und Produkten die dort zur Verkauf angeboten
werden. Wetware sucht seine Artgenossen, trotz allen Thesen
vom Ende des Subjektes, das Soziale ist nicht so leicht
auszurotten, es ist alt und gemuetlich, auch im Cyberspace.
Man wird ja nicht die ganze Zeit allein durch diese
ewiglangen Tunnels schweben wollen.
H.W.: Das Problem 'Isolation' versus 'Kontext' ist
wahrscheinlich zu kompliziert, um es hier in der kurzen Form
nochmal ganz klarzukriegen. Aber die Idee war, die uebliche
Unterscheidung von analog und ditial zu ueberschreiten und ein
allgemeineres, wenn du so willst, semiotischeres Kriterium zu
entwickeln. Isolation und Kontext sind die beiden notwendigen
Bestimmungen des Zeichenprozesses, seine beiden Pole; denn
Zeichen sind immer mehr oder minder abgrenzbar/verschiebbar
und sie bilden in der Kombination immer Kontexte aus.
Wenn ich den Film (in seinem analogen Gleiten) nun dem Pol
'Kontext' zuordne und den Computer dem Pol 'Isolation', dann
erkenne ich, dass es sich jeweils um Spezialisierungen bzw.
Vereinseitigungen handelt.
Film, das ist die Vorstellung, die du zitierst, ist immer
schon Kontext, weil ich ihn gar nicht in letzte Einheiten oder
Elemente zerlegen kann. Das kann ich bei den Modellen im
Rechner immer; und das scheint mir jeweils eine Pointe der
beiden Medien zu sein.
G.L.: Worin besteht deiner Meinung nach das historische
Projekt des Computers? Film, sagst du, ist gegen die
Krankheiten des Symbolischen gerichtet. Es ist klar, dass die
Computer saubere Raeume erstellen, Paranoia erzeugen, Abwehr
und Verdraengung (der Anderen und der Gesellschaft sowieso)
foerdern, die klassischen Formen von Oeffentlichkeit bedrohen
usw. Dies alles sind fuer mich reale Einwaende gegen die
uebertriebenen Erwartungen der Euphoriker. Aber meinst du
wirklich, dass die sonstigen, alten Medien auf all diese
Probleme eine Antwort haben? Film kann Geschichten erzaehlen
(wie kein anderes Medium), aber doch nicht die Welt retten!
Warum denkst du noch in solchen Kategorien der Polaritaet und
Rivalitaeten zwischen den unterschiedlichsten platforms? Klar,
es fuehrt zur Polemik, und das braucht die deutsche
Medientheorie, da bin ich einverstanden.
H.W.: Wenn Du der Sauberkeits- und Paranoia-These zustimmst,
sind wir schon ziemlich einig; und tatsaechlich ist es ja
umgekehrt, weil es der Wetware-Text der Agentur Bilwet war, an
dem mir ueberhaupt die Verbindung zu Theweleit und zu den
feministischen Fragen klargeworden ist. Aber dann befinden wir
uns in einer ziemlich uebersichtlichen Minderheit. Die meisten
der Involvierten koennen ihre Paranoia offensichtlich mehr
geniessen, oder sie haben sich fuer eine Zeit relativ
komfortabel in ihr eingerichtet.
Und selbsverstaendlich kann der Film die Welt nicht retten.
(Vielleicht wuessten die Leute es sonst und wuerden ihn nicht
so schlecht behandeln, ihn in laecherliche 540 Zeilen rastern
und strampelnde Multimedia-Briefmarken fuer die Sache nehmen).
Die Konkurrenz aber gibt es real und zwar auch ausserhalb der
deutschen Medientheorie: in der Konkurrenz um die Freizeit der
Leute, um ihr Geld, ihre Aufmerksamkeit, ihre Zuwendung, und
um gesellschaftliche Infrastrukturen.
Paradigmenwechsel in der Mediengeschichte sind nur dann
dramatisch, wenn es tatsaechlich um Abloesungen geht. Ob ein
solcher gegenwaertig stattfindet, ist umstritten und Teil der
Diskussion, ich denke aber, das man von einem Wechsel sprechen
kann; soweit nehme ich den Hype ernst.
G.L.: Maenner denken isolationistisch, Frauen dagegen
kontextuell, das ist auch meine Beobachtung. Nun ist das in
der Kultur so festgelegt und gehoert nicht zur Natur der
Geschlechter (so die gender-Debatte...). Anders gesagt:
Maenner lieben MS-DOS und Unix, Frauen Apple und Windows 95.
Den Ansatz von Kittler und Theweleit finde ich da aber doch
einleuchtender, wo sie ueber Mann-Frau-Paare schreiben, die
ueber die Diskursmaschinen, produktive (und manchmal
toetliche) Beziehungen miteinander eingehen. Das wiederholt
sich am Beispiel Computer, oder sind wir immer noch nicht
klueger geworden? Was fuer eine Erziehungsdiktatur und
Architektur der Maschinen brauchten wir, um uns endlich von
diesen einfachen Trennungen und offensichtlichen Fakten zu
befreien?
H.W.: Der Wetware-Text, ich muss nochmal darauf kommen, hat
ebenfalls eine deutliche Geschlechter-Konnotation, mit der
Pointe allerdings, dass er auch den maennlichen User in eine
weiblich-waessrige Position bringt. Die Maschinen ueberbieten
ihn in seiner Maennlichkeit, und beschaemen ihn ein weiteres
Mal, nur diesmal nicht mehr prometaeisch, sondern genital
(oder gender-konstruiert-genital).
Ansonsten aber bin ich unsicher: bei Kittler hat mir die
Komplementaritaets-These nie eingeleuchtet; wenn die Maenner
diktieren und die Frauen tippen, sehe ich nicht, was daran
eine produktive Beziehung vermittelt ueber Diskursmaschinen
waere (es sei denn man fasst das 'produktiv' in einem zynisch-
oekonomischen Sinn); in Theweleits Orpheus-Buch, von dem ich
nur den ersten Band kenne, kommen die Frauen ohnehin nur als
Hilfsmittel der maennlichen Dichter-Produktivitaet in
Betracht. Vor allem aber sehe ich im Fall der Computer keine
vergleichbare Verschraenkung. Was ich sehe, ist eine
Separation der Medien entlang der Geschlechtergrenze: eine
Korrelation der Mentalitaeten (Frauen: kontextuelles
Denken/Bildmedien und Maenner: isolationistisch-reifizierendes
Denken/Computer). Und darueber wollte ich schreiben, weil mir
die Korrelation auch ueber die Medien selbst einiges
auszusagen schien. (Und ueber mich selbst als einen
maennlichen Computerbenutzer).
Wo zeichnet sich fuer Dich eine produktiv-komplemetaere
Beziehung im Fall der Computer ab?
G.L.: Sowieso, nie nur innerhalb des Computers, sondern immer
in den eigenartigen Zusammenschluessen von alten und neuen
Medien, Piratenradio mit lokalem Fernsehn und ueberfluessigen
websites, einem Manifest, ein wenig Klatsch und schoenen
Bildern dazu, mit vielen Leuten, in einem realen Raum, also
moeglichst wenig monokausalen, selbstbezueglichen Maschinen.
Aber eine gender-Sache ist zu unseren Lebzeiten nie einfach
vorgegeben, einfach da, das Thema muss immer auf den Tisch.
Eine Aufgabe der Netzkritik liegt, unserer Meinung nach,
darin, die Faszination fuer die Netze zu verstehen, und, wie
du sagst, das 'Reich der Wuensche' zu erforschen. 'Die'
Medientheorie hat dies bisher noch nicht gemacht,
hauptsaechlich aus dem Grund, dass sie sich fuer die real
existierenden Medien und deren Tuecke nicht interessiert hat.
Sie hat versucht, diese Medien erstmal historisch
einzuordnen und uns einen tonnenschweren Apparat an
Begriffen geschenkt, von denen nur die wenigsten auf der Erde
etwas wissen. Die deutsche Medientheorie ist nicht Diskurs und
war nie in der Mode, wenigsten nicht aus internationaler
Sicht. Vielleicht gilt das nur fuer das westdeutsche
Feuilleton.
H.W.: Mein Traum ist es natuerlich, nicht nur Mode zu werden
sondern cult, mit oder ohne die deutsche Medientheorie, und
zwar zuerst im deutschen Feuilleton (das bislang tatsaechlich
nur tot-traurige Dinge zum Computer produziert), und sofort
danach international. Und ich finde es einen Skandal, dass auf
dieser Erde immer noch Leute ohne die Segnung meiner
Erkenntnisse auskommen muessen. Ich will die Welt begluecken,
und zwar richtig.
Spass (?) beiseite. Ich wuerde an dem tonnenschweren
Begriffsapparat nicht mitbauen, wenn ich eine sehr
grundsaetzliche Klaerung nicht fuer notwendig hielte. Und dir
selbst, denke ich, geht es nicht anders: die Sprache, in der
du Theorie betreibst, mag beweglicher und leichtfuessiger
sein, sie greift aber mindestens genauso radikal und genauso
tief ein in das, was fuer 99% der User Gewissheit ist, und
muss genauso mit dem Talk konkurrieren, den Sony und Wired in
die Welt streuen. Sei ehrlich, ist es nicht so? Sitzen wir
nicht letztlich im gleichen Boot, obwohl Du viel mehr reist
und viel mehr Leute kennst?
G.L.: unbedingt. Aber ich glaube, dass hat vor allem mit der
zunehmenden Isolation der Intellektuellen zu tun. Zum Glueck
hat diese soziologische Kategorie immer weniger Einfluss.
Immer mehr Leute kommen ohne Text und Diskurs und... ohne
saekularisierte Predigt und Moral aus. Gefragt sind
Lebenshilfe und Visionen, keinen Tugenden fuers Buergertum.
Und das gilt auch fuer die Medientheorie, egal autonom oder
akademisch.
Am Ende des Buches forderst du eine 'realistische
Untersuchung' des Netzes und seiner Funktionsweisen. Kannst du
vielleicht einige konkreten Beispiele geben, was ansteht und
woran in den naechsten Jahren, deiner Meinung nach, gearbeitet
werden sollte?
H.W.: Ein paar Sachen, die ich interessant faende, habe ich
schon genannt. Da sind sind z.B. die Search-Engines, deren
Rolle ich vollstaendig ungeklaert sehe. Da sie die mit Abstand
hoechsten Zugriffszahlen im Netz ueberhaupt haben, sind alle
Links, die sie verwalten und ihren Nutzern vorschlagen, von
einer zentralen Bedeutung fuer die Grundarchitektur des
Netzes. Wie man solche Strukturen nachzeichenen kann, weiss
ich nicht, aber ich wuerde zunaescht versuchen, die expliziten
oder impliziten Relevanzkriterien nachzuzeichnen, mit denen
diese Institutionen ihre Verzeichnisse updaten.
Eine zweite Aufgabe waere, reale Bewegungen realer Nutzer im
Netz zu protokollieren. 'Surfen' scheint mir ein krasser
Euphemismus, gemessen an dem tatsaechlichen Herumstolpern, am
Auseinanderklaffen zwischen der erwarteten Information und
dem, was die Recherchen konkret ergeben. Ich kenne nur wenige
Leute, die mir gesagt haetten: das und das habe ich im Netz,
und zwar nur dort, gefunden. Ich selbst allerdings habe auch
diese Erfahrung gemacht.
Sehr interessant waere, welche Spruenge als Fehlversuch und
welche Search-Ergebnisse als definitiver Muell eingestuft
werden. Gegenwaertig ist es die Flut kommerzieller Eintraege,
die die Ergebnislisten droht insignifikant zu machen; aehnlich
wie in Illustrierten, nur dass dort meist zu unterscheiden
ist, wo der redaktionelle Teil aufhoert und wo die Anzeigen
anfangen.
Zapping waere ein alternatives Verstaendnismodell, weil es da
von vornherein nicht um Information geht, sondern um eine Art
Tagtraum, der das Material auf dem Schirm nur als einen
Ausloeser benutzt.
Und als drittes schliesslich wuerde es mich interessieren,
ueber die Entwicklungs-Dimension des Netzes nachzudenken.
Gegenwaertig scheint mir diese sich in Schueben zu vollziehen:
die WWW-Logik hat die Gopher-Eintraege entwertet, und es wird
sicher eine WWW-Generation kommen, die nicht mehr
abwaertskompatibel ist. Und daneben laeuft der naturwuechsige
Verfall der Links, wenn diejenigen Pages geaendert werden, auf
die die Links zeigen.
Wenn diese Entwicklungs-Schuebe immer die Entwertung ganzer
Datenbestaende bedeuten, so ist dies eine bestimmte (und zwar
sehr aufwendige) Dialektik zwischen Bewahren und Vergessen.
Und mich interessiert, wie die Leute auf Dauer mit dieser
Sache umgehen werden. Dies betrifft die gesamte Grundlogik,
nach der sich das Netz als ein geschichtlicher Diskurs organi-
siert. Und hier relativ frueh empirische Indizien zu sammeln,
waere wirklich eine Aufgabe.
Hartmut Winkler, Docuverse, Zur Medientheorie der Computer
Habitationsschrift, Universitaet Frankfurt am Main, 1996
Erscheint demnaechst in Buchform.
Fuer mehr Information: winkler@tfm.uni-frankfurt.de