interfiction
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09-07-96
From: mmueller@hrz.uni-kassel.de (Marc Mueller)
Subject: V I R E N - Der ungelenke Agent?
To: if@duplox.wz-berlin.de
Date: Tue, 5 Dec 1995 13:48:54 +0100 (MEZ)
Content-Length: 6062
Viren - Der ungelenke Agent
oder der fünfte apokalyptische Reiter
Moderne Zivilisationskrankheiten gibt es viele, durchaus sind die mei-
sten unbeabsichtigte Produkte des Fortschritts und Neuerschliessung
von Räumen. Bei kaum einer Seuche ist die Bezeichnung aber so irre-
führend und moralisch belastet wie bei den „Computerviren“.
Nach bisher üblicher Übereinkunft haftet jedem Virus etwas fatalisti-
sches an, sein Dasein fristet er als Parasit in einem komplexen Evoluti-
onsgefüge, alleine ist er nicht lebensfähig, stellt quasi nur die
„Intelligenz“ /Software dar, die den Organismus „umprogrammiert“.
Computerviren hingegen wurden künstlich und vor allem willentlich un-
ter genauem Bedacht ihrer Wirkung freigesetzt. Der einstige Brunnen-
vergifter hat ein neues Mittel für die umfassende, wenn auch unkontrol-
lierte, „Rache“ an der Gesellschaft gefunden.
Anfangs aufgrund der nötigen Programmierkenntnisse Außenseitern
vorbehalten, entwickeln sich Viren dank sogenannter toolsets zum Zeit-
vertreib verantwortungsloser User. Längst ist die Menge der freigesetz-
ten Viren unübersichtlich geworden und hat einen neuen Bereich der
Softwareindustrie, wenn nicht geschaffen, so doch zumindest kräftig
gepuscht.
Berechtigterweise wird hier die Frage laut nach Henne und Ei: Ist es
doch kein Geheimnis, daß einige Softwarefirmen durchaus ihre Kontakte
zu den Produzenten der Viren pflegen; die Behauptung von in Lohn und
Brot stehenden Virenprogrammierern eine potentielle Folgerung.
Eine illustres Beispiel für die Nützlichkeit der Viren aus Sicht der
Marktwirtschaft ließe sich bosartig aus der neuen Anzeigenkampagne
von IBM ableiten, die ihre Rolle als Marktführer unterstreichen wollen
durch den Verweis auf ihre allumfassende Forschung zu Viren (die Wor-
te Hochsicherheitslabors, unter Verschluß fallen und drängen dem Le-
ser ganz eigene Bilder und eine vermeintliche Sicherheit auf).
Was aber ist das Virus? In jedem Fall sind sie bösartig, weil sie sich als
parasitäre Form erhalten, sie stehlen „Produkte“ zum eigenen
„Arterhalt“. Sie gelten als nichtverstehbar, unkontrollierbar wie der
bombende Anarchist vor dem es auch keinen endgültigen Schutz gibt.
Unter Viren werden aber auch gezielte Sabotage, ja Waffen ähnlich den
ABC-Waffen gesehen, die einmal effizienter als der ganze herkömmliche
ABC-Bereich zusammen werden sollen.
Aber vielleicht gibt es da noch einen anderen Aufhängepunkt für die
Überlegungen zum Virus: Das Internet wuchert und wuchert, längst hat
der Nutzer den Überblick verloren und kann nur noch mit „Krücken“
Licht im Informationswirrwarr bringen. Neben der Suche über Daten-
bänke und Stichwörter reift die Idee des intelligenten, selbstständig
agierendem Agenten im Netz.
Die Idee variiert von KI-basierten Programmen, die nach vom Nutzer
gemachten Vorgaben „lernen“ (sprich ein Bedarfsprofil entwickeln) und
damit eigenständig agieren können, bis zu Wurmprogrammen, die nach
sehr genauen Vorgaben nur jeden Treffer dem Auftraggeber melden.
Der feine Unterschied zwischen dem Virus und dem Agenten ist der der
Bewertung seiner Aufgaben. Bei beiden handelt es sich um die verlän-
gerten Manipulatoren des Nutzers. Die Gesellschaftsfähigkeit des einen
ist aufgrund seiner Destruktivität, Bösartikeit verhindert.
Wird jetzt deutlich, daß Virus und Agent verwandter einander sind als es
das gesellschaftliche Schwarz/Weiß-Denken zuläßt? Vielleicht bringt ein
Blick in potentielle zukünftige Entwicklungen mehr Klarheit, aber zuvor
noch ein paar Bemerkungen zu der zutiefst moralisch geprägten Bösar-
tigkeit:
Wo beginnt Bösartigkeit? Was ist schon/noch bösartig? Denn die Mög-
lichkeiten zur aktiven Sabotage (oder vielleicht doch nur: „kreativen
Eingriffen“?) von Netzbereichen - egal ob durch Agenten oder den Nut-
zer persönlich - sind vielfältig: Chat-Lines lassen sich schon durch weni-
ge Buchstaben nahezu stillegen, elektronische Briefkästen sind auch in
ihrer Aufnahmekapazität endlich und damit sprengbar, FTP-Server sind
nur begrenz tolerant was den großen Ansturm angeht , und sicherlich
lassen sich auch WWW-Seiten auf viele Arten sabotieren.
Wahrscheinlich werden schon bald Viren und Agenten durch ihre Kom-
plexität nicht mehr unterscheidbar sein und wie wird ein Agent mit
„Kampfauftrag“ genannt? (Erinnern wir uns: Viren werden auch als Waf-
fe definiert!) Ein gar lustiges Beispiel: Der Literaturrechercheagent be-
kommt ein aktivierbares Unterprogramm, damit er dafür sorgt, daß alle
Agenten, die ebenfalls bestimmte Objekte suchen, zerstört oder weitaus
eleganter mit Falschinformationen gefüttert werden.
Die Kreuzung des Agenten mit der Ideologie und Geschichte der Viren
könnte dazu führen, daß der einstmals ‘ungelenke Agent’ mobil und po-
tentiell resistent wird. Ein Entwicklung, die die Netzwelt garantiert stär-
ker erschüttern wird als die Kommerzialisierung und Zensur: Es wird die
Möglichkeit geschaffen den Wert von Wahrheit und Authenzität im Netz
auf eine schale Worthülle zu reduzieren.
Die Netzphilosophien um das Internet und andere Netze als Medium mit-
tels dessen man sich vorbei an den großen Medien „vorort“ und
„objektiv“ informieren kann würden dann endgültig nichtig werden; der
Datenhighway als universelles Medium wäre nicht mehr nutzbar und der
totalen Manipulation freigegeben. Ein Eingriff in das „Ökosystem“ Inter-
net, dem dieses bisher nicht entsprechendes entgegensetzen kann.
Welche präventiven Maßnahmen notwendig sein könnten, um der 5.
Apokalypse begegnen zu können, ist jetzt noch nicht abschätzbar. Aber
es besteht die Gefahr der massiven Einschränkung der Nutzungsrechte
des Einzelnen zugunsten des Netzwerkerhalts. Der anhaltende Ansturm
auf die Netze wird zu einer Verknappung von Netzressourcen führen, die
Abwehr von systemfeindlichen Aktivitäten wird daher immer entschei-
dener werden.
-------Marc Mueller / SIM - Kassel
eMail : mmueller@hrz.uni-kassel.de
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