interfiction
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Date: Wed, 20 Dec 1995 19:19:26 +0100
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Subject: TAZ::interfiction
TAZ Nr. 4803 vom 19.12.1995 | Seite 16 | Kultur
Autor: Tilmann Baumgaertel
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Die Daten kommen durch die Steckdose
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Feindbild Telekom: Zur "Interfiction" in Kassel trafen sich
Internet-Nutzer, um ueber Online-Piraterie und die
Moeglichkeit eigener "Netzgesetze" zu diskutieren
Das Internet galt bis vor wenigen Jahren als anarchistisch-
unreglementierte Insel der Seligen: ein rechtsfreier,
transnationaler Raum, in dem keine Gesetze existierten
auszer einem unausgesprochenen Ehrenkodex. Doch seit 1993
macht es die graphische Variante des Internet, das
WorldWideWeb (WWW), auch fuer Computerlaien einfach, sich
im Netz zu bewegen. Und ein fast gleichzeitig vom
amerikanischen Vizepraesident Al Gore losgetretene
Beschwoerung des "Daten-Highway" Internet liesz immer mehr
Menschen in den Cyberspace vorstoszen, die die gewachsenen
Sozialstrukturen des Internet nicht kannten.
Auch die bei der traditionellen "Net-Community" wenig
beliebten Medienkonzerne und Groszunternehmen begannen sich
im Netz breitzumachen. Ploetzlich sah es so aus, als wuerde
aus dem Cyberspace, den seine Urbewohner aus dem
akademischen Milieu und aus der Hackerszene als sozialen
Ort verstanden hatten, ein gigantisches Einkaufszentrum
werden - ohne Ladenschlusz- oder sonstiges Gesetz. Was
einmal von den Pionieren im Vertrauen auf eine
eingeschworene Gemeinschaft als archaischer Ort besiedelt
worden war, zieht mittlerweile windige Geschaeftsleute an,
die mit Spielkasinos, Neppgeschaeften und Bumslokalen ein
schnelles Geld machen wollen. Selbst Neonazis und
Kinderpornographen greifen zum Netz.
Die Veranstaltung "Interfiction", die am Rande des Kasseler
Film- und Videofestivals stattfand, wollte der wachsenden
Kolonialisierung des Internet durch kommerzielle Interessen
etwas entgegensetzen. Waehrend Telekom, Bertelsmann und
America Online sich zur Zeit darauf vorbereiten, den
deutschen Online-Markt aufzurollen, sollte in Kassel
diskutiert werden, ob man den Cyberspace jetzt kampflos den
Interessen von Groszunternehmen und deren Kunden
ueberlassen musz oder ob es nicht moeglich sei, das
Internet als "Raum, in dem ich nicht als Konsument
behandelt werde", zu erhalten, wie es der Amsterdamer
Medientheoretiker Geert Lovink in seinem Eroeffnungsreferat
formulierte. Gleichzeitig versuchen einige Internet-
Benutzer auf recht rigorose Art, den uebrigen Usern ihre
Moralvorstellungen aufzuzwingen. Sabine Helmers vom
Wissenschaftszentrum Berlin berichtete von den Cyber-
Angels, die aehnlich den Guardian Angles, die in der New
Yorker U-Bahn patrouillieren, um Verbrechen zu verhindern,
das Netz nach Informationene durchsuchen, die ihrer
Definition von "Schmutz" entsprechen. Um sicher zu gehen,
dasz das Internet nicht auf solche Weise in die Haende der
Geschaeftemacher und Moralapostel faellt, sollten in Kassel
politische Forderungen formuliert oder sogar ein Manifest
verabschiedet werden.
Dazu kam es nicht. Wir waeren nicht in Deutschland, haetten
bei einer derartigen Veranstaltung nicht erst mal alle
Beteiligten so sehr recht, dasz man die Debatte gleich
wieder beenden koennte. Der mitunter recht harsche Ton und
die Verbissenheit, mit der viele Konferenzteilnehmer ihre
Standpunkte verbreiteten, erinnerte an die schoensten
Momente in den oft aggressiven Debatten der Internet-
Newsgroups. Klaus Schoenberger vom Autonomen Zentrum
Marburg, der in seinem Einleitungsreferat sagte, dasz nicht
das Medium zaehlt, sondern das, was damit mitgeteilt wird,
bekam sofort seinen veralteten Begriff von
Gegenoeffentlichkeit um die Ohren geschlagen. Auch sonst
muszte erst mal jeder sein Terrain reklamieren: Die
Computer-Veteranen gegen die Internet-Neuzugaenge, die
Mailbox-User gegen die WWW-Surfer, die postmodernen gegen
die traditionellen Linken und alle zusammen gegen die
Telekom.
Die Telekom ist ein gemeinsames Feindbild, denn deren
kuenftige Preisstruktur, die durch ihre ueberhoehten
Ortsgespraechstarife die User von Online-Diensten
benachteiligt, macht unmoeglich, was alle
Konferenzteilnehmer als wichtiges Ziel fuer die Zukunft
ansahen: Access for all - der gleichberechtigte Zugang fuer
alle zum Netz. Um die Telekom und ihr ueberteuertes
Leitungsnetz zu umgehen, schlug der Berliner
Medientheoretiker Volker Grassmuck darum vor, alternative
Leitungen zu benutzen: Statt ueber das Telefonnetz koennte
man Computerdaten via Infrarot- Strahlen uebertragen oder
die "Babyphone"-Technologie nutzen, die es moeglich macht,
geringe Datenmengen statt durch Telefonleitungen ueber das
Elektrizitaetsnetz zu bewegen. Die Kasseler Mailbox asco
experimentiert mit packet-radio: Statt per Telefonleitung
kann man sich bei asco mit CB-Funk einloggen: "Das ist zwar
zeitaufwendiger als ueber das Telefonnetz, aber dafuer
umsonst. Auch Gereon Schmitz von dem WWW-Projekt
Internationale Stadt forderte, einen Satelliten zu mieten,
um die Netze der Telekom zu umgehen.
An Forderungen fehlte es auch sonst nicht. Padeluun von der
Bielefelder Mailbox Bionic regte an, dasz der Cyberspace
als eigener Staat Mitglied der UNO werden muesse und dasz
alle Menschen Gelegenheit dazu haben sollten, in
Bibliotheken oder Gemeindezentren das Internet und seine
Netiquette kennenzulernen. Offenbar sind die politische
Forderungen mit der Net-Community gewachsen: das Recht auf
Information, demokratische Abstimmungen ueber
Datenuebertragungsprotokolle, eine Kontrolle des
Netzmanagements durch die User, Gewerkschaften fuer
Telearbeiter und Organisationen, die die Interessen von
Usern vertreten - denn, so hiesz es, es gehe nicht darum,
Computer miteinander zu vernetzen, sondern Menschen.
Auf keinen Fall jedoch soll die wirkliche Welt im
Cyberspace blosz abgebildet werden, sondern eine andere
Welt geschaffen werden. In der wirklichen Welt bekannte
unerfreuliche Erscheinungen wie Rassismus oder Sexismus
moechte man nicht unbedingt in den Cyberspace importieren.
Auch darum waere es wuenschenswert, einen politisch
akzeptablen Konsens zu finden. Andererseits ist es im
Cyberspace durchaus moeglich und gebraeuchlich, andere
Geschlechteridentitaeten anzunehmen. Allein schon in bezug
auf das eigene Geschlecht koennte daher ein "Recht zu
luegen" Element eines "Netzgesetzes" werden. Und um
diejenigen, die daran mitwirken, aus dem Cyberspace einen
oeffentlichen Raum zu machen, so zu honorieren, dasz sie
auch in der wirklichen Welt ueberleben koennen, sollte auch
"Netzleistung" - also die Kreativitaet, die Netzbastler in
den Cyberspace investieren - entlohnt werden. Dafuer
koennte zum Beispiel ein internationaler Netzfonds
geschaffen werden, in den alle Laender im Verhaeltnis zu
ihrem Bruttosozialprodukt einzahlen, wie Padeluun
vorschlug.
Es war also nicht so, dasz in Kassel die Ideen fehlten, was
relevante politische Forderungen fuer den Cyberspace sein
koennten. Was fehlte, war blosz die Bereitschaft, sich auf
welche zu einigen. Auf konkrete, praktikable Ideen, wie man
das Netz fuer alle zugaenglich macht, ohne dasz es zum
Cyber- Tollhaus oder zum virtuellen Las Vegas wird, wird
man wohl noch ein wenig warten muessen - oder alles den US-
Amerikanern ueberlassen, die den Europaeern in puncto
Cyberspace sowieso um einige Jahre voraus sind. Fuer ein
paar Teilnehmer hat sich der Weg nach Kassel jedoch auf
jeden Fall gelohnt: Die Veranstalter von dem Berliner WWW-
Projekt Internationale Stadt, die bei der naechsten
documenta ein Internet-Projekt machen werden, konnten vor
Ort noch schnell die halbe Kasseler Mailbox-Szene als
Mitarbeiter fuer ihre documenta-Plaene rekrutieren. Wenn
Mailbox-Freaks ploetzlich an einem WorldWideWeb-Projekt
mitarbeiten, dann hat die Interfiction schon einiges
Feedback erreicht.
Tilmann Baumgaertel