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09-07-96
Date: Sat, 2 Dec 95 06:51 MET
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From: Pit Schultz
Subject: Postscriptum ueber die Kontrollgesellschaften (II. Logik) -
Gilles Deleuze
II. Logik
Die verschiedenen Internate oder Einschliessungsmilieus, die das Individuum
durchlaeuft, sind unabhaengige Variablen: dabei wird davon ausgegangen, daß
man jedesmal wieder bei Null anfangen muss; zwar gibt es eine gemeinsame
Sprache dieser verschiedenen Milieus, aber sie ist 'analogisch'. Dagegen
sind die verschiedenen Kontrollmechanismen untrennbare Variationen, die das
System einer variablen Geometrie mit 'numerischer' (das heisst nicht
notwendigerweise binaerer) Sprache bilden. Die Einschliessungen sind
unterschiedliche 'Formen', Gussformen, die Kontrollen jedoch sind eine
'Modulation', sie gleichen einer sich selbst verformenden 'Gussform', die
sich von einem Moment zu anderen veraendert, oder einem Sieb, dessen Maschen
von einem Punkt zum anderen variieren. Das zeigt sich an der Frage der
Loehne: Die Fabrik war ein Koerper, der seine inneren Kraefte an einen Punkt
des Gleichgewichts brachte, mit einem moeglichst tiefen fuer die Loehne; in
einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das
Unternehmen, und dieses ist kein Koerper, sondern eine Seele, ein Gas.
Gewiss war auch in der Fabrik schon das System der Praemien gut bekannt,
aber das Unternehmen setzt eine viel tiefgreifendere Modulation jedes Lohns
durch, in Verhaeltnissen permanenter Metastabilitaet, zu denen aeusserst
komische Titelkaempfe, Ausleseverfahren und Unterredungen gehoeren. Die
idiotischen Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich,
weil sie die Unternehmenssituation adaequat zum Ausdruck bringen. Die Fabrik
setzte die Individuen zu einem Koerper zusammen, zum zweifachen Vorteil des
Patronats, das jedes Element in der Masse ueberwachte, und der
Gewerkschaften, die eine Widerstandsmasse mobilisierten; das Unternehmen
jedoch verbreitet staendig eine unhintergehbare Realitaet als heilsamen
Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in
Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchlaeuft und in sich selbst spaltet.
Das modulatorische Prinzip des "Lohns nach Verdienst" verfuehrt sogar die
staatlichen Bildungseinrichtungen: Denn wie das Unternehmen die Fabrik
abloest, loest die permanente 'Weiterbildung' tendentiell die 'Schule' ab,
und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. Das ist der sicherste Weg, die
Schule dem Unternehmen auszuliefern.
In den Disziplinargesellschaften hoerte man nie auf anzufangen (von
der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), waehrend man in
den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen,
Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustaende
ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.
Kafka, der schon an der Nahtstelle der beiden Gesellschaftstypen stand, hat
im 'Prozess' die fuerchterlichsten juristischen Formen beschrieben: Der
'scheinbare Freispruch' der Disziplinargesellschaften (zwischen zwei
Einsperrungen) und der 'unbegrenzte Aufschub' der Kontrollgesellschaften (in
kontinuierlicher Variation) sind zwei sehr unterschiedliche juristische
Lebensformen. Und wenn unser Recht schwankend ist und sich in der Krise
befindet, so liegt das daran, dass wir die eine verlassen haben und in die
andere eintreten. Die Disziplinargesellschaften haben zwei Pole: die
Signatur, die das 'Individuum' angibt und die Zahl oder Registriernummer,
die seine Position in der 'Masse' angibt. Denn fuer die Disziplinierungen
bestand nie eine Inkompatibiliaet zwischen beidem, die Macht ist
gleichzeitig vermassend und individuierend, das heisst konstituiert die,
ueber die sie ausgeuebt wird, als Koerper und modelt die Individualitaet
jedes Glieds dieses Koerpers (Foucault sah den Ursprung dieser doppelten
Sorge in der pastoralen Macht des Priesters - die gesamte Herde und jedes
einzelne Tier; die weltliche Macht sollte sich ihrerseits bald mit anderen
Mitteln zum Laien - "Hirten" machen). In den Kontrollgesellschaften dagegen
ist das Wesentliche nicht mehr eine Signatur oder eine Zahl, sonder eine
Chiffre: Die Chiffre ist eine 'Losung' waehrend die
Disziplinargesellschaften durch 'Parolen' geregelt werden (unter dem
Gesichtspunkt der Integration, aber auch des Widerstands). Die numerische
Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information
kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind 'dividuell' geworden,
und die Massen Stichproben, Daten, Maerkte oder 'Banken'. Vielleicht kommt
im Geld noch am besten der Unterschied der beiden Gesellschaften zum
Ausdruck, weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit gepraegtem Geld
stand, zu dem das Gold als Eichmass gehoert, waehrend die Kontrolle auf
schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz
der verschiedenen Waehrungen als Eich-Chiffre einfuehren. Der alte
Geldmaulwurf ist das Tier der Einschliessungsmilieus, waehrend das der
Kontrollgesellschaften die Schlange ist. Der Uebergang von einem Tier zum
anderen, vom Maulwurf zur Schlange, ist nicht nur ein Uebergang im Regime,
in dem wir leben, sondern auch in unserer Lebensweise und unseren
Beziehungen zu anderen. Der Mensch der Disziplinierung war ein
diskontinuierlicher Produzent von Energie, waehrend der Mensch der Kontrolle
eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn.
Ueberall hat das 'Surfen' schon die alten 'Sportarten' abgeloest.
Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu
setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die
Gesellschaftsformen ausdruecken, die faehig sind, sie ins Leben zu rufen und
einzusetzen. Die alten Souveraenitaetsgesellschaften gingen mit einfachen
Maschinen um: Hebel, Flaschenzuege, Uhren; die juengsten
Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgeruestet,
welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage
mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der
dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in
der Stoerung besteht und der aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische
Viren bilden. Es ist nicht nur eine technologische Entwicklung, sondern eine
tiefgreifende Mutation des Kapitalismus. Eine Mutation, die inzwischen gut
bekannt ist und sich folgendermassen zusammenfassen laesst: Der Kapitalismus
des 19. Jahrhunderts ist einer des Einentums und, was die Produktion
betrifft, der Konzentration. Er errichtet also die Fabrik im Milieu der
Einschliessung, wobei der Kapitalist Eigentuemer anderer Milieus ist, die
analog konzipiert sind (das Heim des Arbeiters, die Schule). Was den Markt
angeht, so wird er manchmal durch Spezialisierung, manchmal durch
Kolonisierung, manchmal durch Senkung der Produktionskosten orientiert, die
er oft in die Peripherie der Dritten Welt auslagert, selbst in komplexen
Produktionsformen wie Textil, Eisenverarbeitung, Oel. Es ist ein
Kapitalismus der Uberproduktion. Er kauft keine Rohstoffe und verkauft keine
Fertigerzeugnisse mehr, sondern er kauft Fertigerzeugnisse oder montiert
Einzelteile zusammen. Was er verkaufen will, sind Dienstleistungen, und was
er kaufen will, sind Aktien. Dieser Kapitalismus ist nicht mehr fuer die
Produktion da sondern fuer das Produkt, das heisst fuer Verkauf oder Markt.
Daher ist sein wesentliches Merkmal die Streuung, und die Fabrik hat dem
Unternehmen Platz gemacht. Familie, Schule, Armee, Fabrik sind keine
unterschiedlichen analogen Milieus mehr, die auf einen Eigentuemer
konvergieren, Staat oder private Macht, sondern sind chiffrierte,
deformierbare und transformierbare Figuren ein und dessselben Unternehmens,
das nur noch Geschaeftsfuehrer kennt. Sogar die Kunst hat die geschlossenen
Milieus verlassen und tritt in die offenen Kreislaeufe der Bank ein. Die
Eroberung des Marktes geschieht durch die Kontrollergreifung und nicht mehr
durch Disziplinierung, eher durch Kursfestsetzung als durch Kostensenkung,
eher durch Transformation des Produkts als durch Spezialisierung der
Produktion. Die Korruption gewinnt hier neue Macht. Zum Zentrum oder zur
"Seele" des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man
bringt uns bei, dass die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die
groesste Schreckens-Meldung der Welt ist. Marketing heisst jetzt das
Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer
Herren. Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet,
aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, waehrend die Disziplin von langer
Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mher der
eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch. Allerdings hat der
Kapitalismus als Konstante beibehalten, das drei Viertel der Menschheit in
aeusserstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur
Einsperrung. Die Kontrolle wird also nicht nur mit der Aufloesung der
Grenzen konfrontiert sein, sondern auch mit dem Explodieren von Slums und
Ghettos.
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