interfiction
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09-07-96
Date: Sat, 2 Dec 95 06:51 MET
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To: if@duplox.wz-berlin.de
From: Pit Schultz
Subject: Postscriptum ueber die Kontrollgesellschaften (I. Historik) -
Gilles Deleuze
I. Historik
Foucault hat die 'Disziplinargesellschaften' dem 18. und 19. Jahrhundert
zugeordnet; sie erreichten ihren Hoehepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Nun werden die grossen Einschliessungs-Milieus organisiert. Das Individuum
wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum naechsten ueber,
jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule ("du bist
hier nicht zu Hause"), dann die Kaserne ("du bist hier nicht in der
Schule"), dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, moeglicherweise das
Gefaengnis, das Einschliessungsmilieu schlechthin. Das Gefaengnis dient als
Analogie: Wenn die Heldin in 'Europa 51' Arbeiter sieht, kann sie ausrufen:
"Ich glaubte Verurteilte zu sehen..." Das ideale Produkt der
Einschliessungsmilieus, das in der Fabrik besonders deutlich sichtbar ist,
wurde von Foucault sehr gut analysiert: konzentrieren; im Raum verteilen; in
der Zeit anordnen; im Zeit-Raum eine Produktivkraft zusammensetzen, deren
Wirkung groesser sein muss als die Summe der Einzelkraefte. Foucault wusste
jedoch ebenfalls um die kurze Dauer dieses Modells: es folgte auf die
Souveraenitaetsgesellschaften, die ganz andere Ziele und Funktionen hatten
(abschoepfen eher als die Produktion organisieren, ueber Leben und Tod
entscheiden eher als das Leben verwalten); der Uebergang vollzog sich
schrittweise, und Napoleon hat anscheinend die endgueltige Umwandlung der
einen Gesellschaftsform in die andere bewerkstelligt. Aber die
Disziplinierungen gerieten ihrerseits in eine Krise, zugunsten neuer
Kraefte, die sich langsam formierten und sich nach dem Zweiten Weltkrieg
rasant entwickeln sollten: Die Disziplinargesellschaften, da gehoeren wir
schon nicht mehr dazu, wir waren schon dabei, sie zu verlassen.
Wir befinden uns in einer allgemeinen Krise aller
Einschliessungsmilieus, Gefaengnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie.
Die Familie ist ein "Heim", es ist in der Krise wie jedes andere Heim, ob
schulisch, beruflich oder sonstwie. Eine Reform nach der anderen wird von
den zustaendigen Ministern fuer notwendig erklaert: Schulreform,
Industriereform, Krankenhausreform, Armeereform, Gefaengnisreform. Aber
jeder weiss, dass diese Institutionen ueber kurz oder lang am Ende sind. Es
handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu
beschaeftigen, bis die neuen Kraefte, die schon an der Tuere klopfen, ihren
Platz eingenommen haben. Die 'Kontrollgesellschaften' sind dabei, die
Disziplinargesellschaften abzuloesen. "Kontrolle" ist der Name den Burroughs
vorschlaegt, um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault unsere nahe
Zukunft erkennt. Auch Paul Virilio analysiert permanent die ultra-schnellen
Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten - noch innerhalb
der Dauer eines eingeschlossenen Systems operierenden - Disziplinierungen
ersetzen. Es ist nicht noetig, die aussergewoehnlichen Pharmaerzeugnisse
anzufuehren, die Nuklearformationen, Genmanipulationen, auch wenn sie dazu
bestimmt sind, in den neuen Prozess einzugreifen. Es ist nicht noetig zu
fragen, welches das haertere Regime ist, oder das ertraeglichere, denn in
jedem von ihnen stehen Befreiungen und Unterwerfungen einander gegenueber.
In der Krise des Krankenhauses als geschlossenem Milieu konnten zum Beispiel
Sektorisierung, Tageskliniken oder haeusliche Krankenpflege zunaechst neue
Freiheiten markieren, wurden dann aber Bestandteil neuer
Kontrollmechanismen, die den haertesten Einschliessungen in nichts
nachstehen. Weder zur Furcht, noch zur Hoffunung besteht Grund, sondern nur
dazu neue Waffen zu suchen.
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