Date: 20 Nov 95 09:47:38 EST From: Heiko Idensen <100762.2560@compuserve.com> To: interfiction mailing listSubject: PooL-Processing (interfiction) PooL-Processing - ("Die Imaginaere Bibliothek") Projekt-Geschichte und Kritik Die Aktivitaeten von PooL-Processing (seit 1987 Installationen, Vortaege, Workshops im Bereich Hyper/Media) haben von Anfang an das klassische Copyright - insbesonders den buergerlichen Mythos vom Besitz, Eigentum und Verfuegungsgewalt ueber Texte, Artefakte, Ideen etc. radikal in Frage gestellt und versucht, Praktiken gemeinschaftlichen Produzierens auszuprobieren. Nach einer fruehen Sammlung von Texten, Theoriefragmenten und Dokumenten zur Medienkunst (in der "Agentur fuer aesthetische Informationen", EMAF 88 und 89 Ars 89, wo wir als "Agenten" einen offensiven Umgang mit Informationskanaelen, Datenbanken etc. initiieren wollten), haben wir das Prinzip der Intertextualitaet (das auf literarischer Ebene dem vermeintlichen Originalitaets- und Schoepfungsanspruechen einer Autor-zentrierten Text-Zirkulation einen Potlatch von Texten entgegensetzt, die untereinander kommunizieren) in der Imaginaeren Bibliothek inszeniert. Die Imaginaere Bibliothek Die Idee, dass die Poesie von allen gemacht werden sollte, nicht von einzelnen Autoren, haben wir hier durch die Prinzipien der missbraeuchlichen Entwendung, des Plagiats und des CutUps in Szene gesetzt: Der Leser wird zum Held, der auf hypertextuellen Oberflaechen herumreist, Text-Bausteine kombiniert, kompiliert, Abstrungmarken folgt und unvermittelt in 'anderen' Text-Stellen 'landet'.. Die Leser verirren sich zwar zwanglaeufig - wie vorgesehen - im Geflecht der verschachtelten Text-Fragmente, aber die "generativen Buecher", Produktionstools zum Weiterschreiben von Romananfaengen, die Gedicht- und Mesostic-Generatoren werden kaum genutzt: Nichts passiert (ausserhalb der Bibliothek). Die Bibliothek bleibt "imaginaer" ... Aus den Erfahrungen der letzten Jahre mit kooperativen Schreibprojekten ("TXTouren: ZERONET und //BIONIC 1990) oder auch Multi-Media-Produktionen ("1000 add one Frame" (CD-ROM, EMAF 1994) liegt zwangslaeufig eine grosse Hoffnung auf den Distibutionsweisen und kooperativen Strukturen des Netzes: Natuerlich ist bei Netzprojekten der "Ruecklauf" ein ganz anderer als bei klassischen Texten oder bei einer CD-ROM Produktion (hier stellt sich trotz relativ guenstigen Produktionsbedingungen die Frage der Distribution genauso wie bei Videofilmen, Musik ...). Insofern ist das Arbeiten im Netz fuer uns eine (konsequente?) Forsetzung (hauptsaechlich) (inter-)textueller und inter-medialer Aktivitaeten. "Die Revolutionierung der Kommunikation beginnt nicht in den Schlafzimmern, nicht auf der Strasse, nicht in den Bibliotheken und nicht in den Guides and Manuals zur Textverarbeitung, sondern direkt auf den Oberflaechen der informationsverarbeitenden Maschinen: [...] die Vernetzung faengt im Kopf an und breitet sich dann ueber verschiedenen Medien aus: Papier, Tasten, Maeuse, Bildschirme, Waende, Buecher, Telefonleitung, Bildschirm, Drucker, Papier, Buch, Waende ..." (Manifest fuer virtuelle Produktionen, in ARS ELECTRONICA (Hg.): "Im Netz der Systeme", Berlin 1990, S.123-149) Zu den technischen Einschraenkungen: Zum Glueck gehoeren wir nicht zu den "homeless", sondern zu den Privilegierten, die ueber die Uni einen Netzzugang haben - allerdings mit den Einschraenkungen, dass ich dort auf dem Server keine Software installieren kann (z.b. fuer automatisierte Rueck-Kopplungs Aktivitaeten von Lesern), und so nur sehr rudimentaer arbeiten kann (Text-Ruecklauf ueber "mailto:"). Neben inhaltlichem Austausch ist mir auch eine Auseinandersetzung ueber Konzepte/ Programmierung/Tools etc. wichtig (was nuetzen die tollsten Programme zur kooperativen Text-Erstellung (z.B. "Storyspace"), wenn sie (ausser ein paar radikalen Interfiction-Schriftsteller in den USA niemand in meinem Umfeld benutzt ? Medienmythen Technologisch, instrumentell und programmatisch haben Hypertext-Programme / vernetzte Text-Strukturen mit der massenhaften Ausbreitung des WWW einen ungeheuren Sprung gemacht: Hypertext ist zu einem Massenmedium geworden. Haben sich damit auch die Hoffnungen der fruehen Hypertext-Utopien (z.B. Ted Nelsons "Xanadu" (1965) als Modell des Dokuverse), die vollmundigen Voraussagen der '1. Generation' von Hypertext-Autoren / Theoretiker erfuellt? - Sind wir sogar selbst unseren eigenen Hoffnungen naehergekommen, die wir am Anfang unserer Hypertext-Euphorie den Beginn einer 'hypertextuellen Poetik' heraufkommen sahen - eine sich entwickelnde digitale Kulturtechnik, die (endlich) avantgardistische Literatur- und aesthetik-Modelle in eine allgemein verbreitete kulturelle Praxis ueberfuehren konnte ...? Sind inzwischen (u.a.) alle 'Leser' zu 'Autoren' geworden? Sind hypertextuelle Praktiken 'demokratischer', anarchistischer, froehlicher, produktiver ... als die mit der Postmoderne endgueltig verabschiedeten klassischen Hermeneutiken? Trotz aller Beschwoerungen, Metaphorisierungen etc. ist das WWW zunaechst einmal eine Oberflaeche, ein Point and Click-Interface zum multimedialen Verknuepfen von Objekten: Natuerlich kann 'alles mit allem verbunden' (Nelson) werden (z.B: eine ISBN-Nr. mit einer Kont-Nr.) aber wie auch einer der 'Pioniere' Ted Nelson bei seinem ersten 'Auftritt' in Europa auf der Interface 3 in Hamburg immer wieder festellen musste: keinesfalls kann jeder Leser ueberall Annotationen anbringen und somit selbst Verknuepfungen (im oeffentliche Raum) vornehmen - wenn dieses nicht ausdruecklich auf dem Server entsprechend softwaretechnisch als Eingabe-Option vorgesehen ist. Aber selbst der 'ewige Kritiker' Nelson musste schliesslich zugeben, dass die faktische Normierung aller Hypertext-Konzepte auf die 'Schluesseltechnologie des WWW eben auch gerade die Implementierung ganz spezifischer Hypertext-Anwendungen und Verknuepfungsweisen ermoeglicht. Insofern koennen viele Hypertext-Ideen und Konzepte, die bisher lediglich offline vor sich hinschlummerten kommunikabel gemacht werden, indem sie im Netz zum allgemeinen Gebrauch bereitgestellt werden. Aber so schoen viele Online-Projekte auch sind, die Kritik, dass die meisten "read-only" Hypertexte sind, gilt nach wie vor, so dass das WWW (als TV mit 40.0000 Kanaelen) sozusagen endlich die definitive Form des Zappings ermoeglicht. Medienmythos Netz Nach dem vermeintlichen Scheitern sozialer Utopien und Projekte verschieben sich utopische Potentiale immer mehr in Technologien und Medien: Umwelt-technologie, Freizeit- und Psychotechnologien, Koerper- und aesthetik-Technologien ... Die Postmoderne wartet mit dem Mythos einer universellen Vernetzung auf: die telematischen Technologien versprechen eine Liberalisierung, Vervielfachung und Bereicherung der Kommunikationsweisen. Soziale Systeme als offene Netzwerke, in denen sich die Aussagen sternenfoermig in alle Richtungen ausbreiten - der Mythos heisst jetzt nicht mehr "das Medium ist die Botschaft" (das gilt fuer die Massenkommunikationsmittel), sondern alle Wissenschaften, Diskurse, Text- und aesthetikmodelle werden zu einem Spezialfall des Informationskreislaufes: das Medium ist die Vernetzung! Zur Zeit ist "das Netz" selbst (leider?) zu einem Medienmythos hochstillisiert worden, wobei bei dem ganzen Internet-Hype hauptsaechlich "der Anschluss" (technisch, welcher Provider, welche Software etc. ) im Vordergrund steht und nicht die kulturellen/sozialen Netzwerke, die sich hierueber realisieren lasssen ... telematische Illusion In der Tat aehneln die telematischen Utopien allzusehr den Versprechungen des freien Marktes, freier Wahlen, bzw. medialen Rueckkopplungen wie Leserzuschriften, Hoerertelefonate, Meinungsumfragen: 'minimale Selbsttaetigkeit der Waehler / Zuschauer' (Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien, 161), wobei allerdings die Antworten immer bereits schon in den Fragen enthalten sind. Eine subversive 'kritische' Verwendung der Medien findet dort ihre strategische Grenze, wo die Form der Medien nicht in Frage gestellt wird und somit die den technologischen Schaltungen zugrunde liegenden Referenzsysteme intakt bleiben. Die telematisch-kybernetische Illusion: jeder kann vom Status des Empfaengers in den Status des Senders uebergehen, zum aktiven Operateur seiner Gedankenobjekte werden! Allerdings aendert sich das Modell gesellschaftlicher Massen-Kommunikation ueberhaupt nicht, wenn die Benutzer telematischer Netze nur vom Status des Empfaengers in den des Senders wechseln koennen, ohne die den Mediensysteme immanente implizite Referenz- und Code-Struktur zu destruieren. Perspektiven ... Als es Hypertexte und das Web noch nocht gab trafen sich die Situationisten (eine Horde wilder Jugendlicher, die im Vorfeld der 68er Revolte eine Revolutionierung des langweiligen Alltagslebens versuchten), um die Methode des gezielten Umherschweifens auzuprobieren: mit (falschen) Karten und Plaenen aus anderen Kontexten durchquerten sie systematisch bestimmte Stadtteile von Paris oder zeichneten den Weg einer Durchschnitts-Studentin ueber das ganze Jahr hindurch auf dem Stadtplan ein ... "Die Integration von verschiedenen Systemen bietet einen grossen Vorteil, insbesondere dann, wenn es dem Benutzer moeglich ist, Verbindungen zu folgen, die ihn von einem Stueck Information zum naechsten bringen. Die Schaffung eines Netzes mit Informationsknoten, und nicht mit hierarchischen Baeumen oder geordneten Listen, ist das grundlegende Konzept von Hypertext. Die Texte werden so miteinander verbunden, dass man von einem Konzept zum anderen gehen kann, um schliesslich die Information zu finden, die man benoetigt." Tim Berners-Lee: WorldWideWeb: Proposal for a HyperText Project Statt der Aufbereitung unserer Homepages mit Grafiken unserer Lieblinge, gilt es, mit gemeinschaftlichen Aufschreibe- und Annotations-Systemen zu experimentieren. Das Experimentieren mit verschiedenen Rueck-Kopplungs-Systemen ist eine wichtige Erweiterung von Read-Only- Hypertexten und Web-Seiten. Was kommt als Antwort (auf die verfehlten Versprechungen und Kritiken PooL-Processings) aus dem Netz? Das Ablegen (ge- und verbrauchter) Texte der Gutenberg-Galaxis im Netz (wie die Universaltutopie des 'Gutenberg-Projekts') ist tot - es lebe der Austausch und die Zusammenarbeit! Kontextlos gibt es auch hier spielerische bis 'idiotische (useless!?) Formen im Netz (Walls, Guestbooks, die laengste Zeile der Welt ...) aber im Kontext amerikanischer Universitaeten haben sich interessante Formen gemeinschaftlicher Textproduktion herausgebildet (die wir sehr gut fuer unsere Arbeit gebrauchen koennen!) einige Links zu kollaborativen Projekten: http://134.100.176.8/interface3/konversatorium/xcollab.html http://www.hfbk.uni-hamburg.de/cgi/rotula/xcollabpost.html (leider ist zur Zeit hier kein Kommentar und auch kein weiteres Einfuegen von Projekten moeglich, so dass sich diese Seite leider nicht kurzfristig fuer die Vorbereitungen zu "Interfiction" gebrauchen laesst!) connect it! hei&co 100762.2560@compuserve.com