interfiction
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09-07-96
Date: Wed, 7 Feb 96 15:19 MET
X-Sender: pit@uropax.contrib.de
To: if@duplox.wz-berlin.de, sure@euronet.nl
From: Pit Schultz
Subject: Next 5 Minutes, Amsterdam
Date: 04 Feb 96 13:06:04 EST
From: Tilman Baumgaertel <100131.2223@compuserve.com>
Subject: Next 5 Minutes
Next 5 Minutes, Amsterdam
Durchschnittliche Arbeiterklasse-Cyborgs
"De Waag" ist ein erlesener Ort fur ein Fruehstuck an einem Sonntagmorgen.
Das mittelalterliche Stadttor ist das aelteste Gebaeude in Amsterdam. In dem
Backsteinbau in der Naehe des Amsterdamer Rotlichtbezirks war frueher die
Stadtwaage, dann das Zunfthaus. Im diesem Jahrhundert zogen hier ein: erst
die Feuerwache, dann ein Moebellager, schliesslich das Gemeindearchiv. Ab
1932 diente das roten Backsteingebauede, in dem einst Rembrandt seine
"Anatomie" gemalt hat, als Juedisches Museum. In den letzten 10 Jahren stand
"De Waag" leer. Letzten Sonntag gab es hier zum ersten Mal seit
Jahrhunderten Fruehstueck.
Die Besucher, die am letzten Sonntag mit Plastikbechern voll Kaffee und
koscheren Croissants in der Hand durch das halbrenovierte, mittelalterliche
Gebaeude tappten, beachteten die 500 Jahre alten Zunftwappen unter der Decke
des mittelalterlichen Gebaeudes allerdings kaum. Kurz diskutierten sie noch,
wie man wohl die dringend benotigten Glasfaserkabel durch die dicken,
mittelalterlichen Backsteinmauern bekommen wuerde. Doch dann kehrte das
Gespraech wieder zurueck zu den Themen, mit denen man sich in den
vergangenen Tagen ununterbrochen beschaeftigt hatten. Die hatten freilich so
gar nichts Mittelalterliches: Es ging um Computer, das Internet, das
WorldWideWeb, die weltweite Vernetzung der Medien.
Wenn "De Waag" fertig renoviert ist, soll in das Gebaeude Ende diesen Jahres
die niederlaendische "Gesellschaft fuer alte und neue Medien" einziehen. Die
Leute, die an diesem Sonntagmorgen in dem mittelalterlichen Gebaeude an
ihren Hoernchen kauten, waren auf Einladung dieser Gesellschaft nach
Amsterdam gekommen, um bei der Konferenz "Next Five Minutes" darueber
nachzudenken, wie die Zukunft der alten und neuen Medien aussehen wird. Vor
allem aber: Wie man die Medien fur die eigenen politische Ziele nutzen kann.
"Links" wuerde diese Ziele zwar heute niemand mehr nennen - darum lautet der
Untertitel von "Next 5 Minutes" auch "Konferenz fuer taktische Medien". Aber
auch fuer die Linke kann es taktisch klug sein, von den Medien etwas
besseres zu verlagen, als das, was Medienkonzerne wie Bertelsmann, Time
Warner, Microsoft und Co. uns liefern.
Als ein "ontologisches Niemandsland" beschrieb der amerikanische Anarchist
Mark Dery, der Eroeffnungssprecher von "Next Five Minutes", die
gegenwaertige Medienszene. Zwar erfuellten die neuesten "Neuen Medien"
eigentlich genau die Forderungen, die die Linke traditionellerweise an die
Medien stellt: Der Konsument wird zum Produzent. Im Internet kann potentiell
jeder User kommunizieren und publizieren. Zur Zeit habe aber weltweit nur
jeder dritte Haushalt ueberhaupt einen Telefonanschluss, vom Internet-Zugang
ganz zu schweigen. Tatsachlich ist es also nur eine kleine Elite von
westlichen Intellektuellen, die sich im Cyberspace bewegt und sich dort
einer symbolischen Kommunikation erfreut. Hightech ist dagegen nicht noetig,
um Medien auf emanzipatorische Weise zu nutzen: Die indische Video-Macherin
Sharad Argwal hat mit ihrer Arbeit geradezu eine Definition von taktischer
Mediennutzung geliefert, obwohl sie nur mit einer Videokamera und zwei
Rekordern als Schnittplatz arbeitet: In einem Ghetto-Vorort von Neu-Dheli
sollte sie einen Film darueber drehen, warum die Maedchen dieses Viertels
nicht zur Schule gingen. Sie fand heraus, dass die Muetter der Maedchen
ihnen den Schulbesuch verboten. Mit der Videokamera interviewte sie die
Muetter. Die meisten Frauen sagten, dass sie ihre Toechter gerne zur Schule
schicken wuerde, aber das von ihren Maennern nicht erlaubt wuerde. Als die
Maenner interviewt wurde, leugneten sie ihre Verbot. Die widerspruechlichen
Videos wurden oeffentlich vorgefuehrt. Seither fehlen die Maedchen nicht
mehr in der Schule.
Auch die brasilianische Videogruppe Caetanno Scannavio fuehrt ihre Videos
oeffentlich vor: Wenn die Filme, die die Gruppe zusammen mit Ghettobewohnern
dreht, in einem Reisebus in den Barrios von Sao Paolo gezeigt werden,
herrscht dort Volksfest-artige Atmosphaere. In den brasilianischen
Elendsvierteln ist es fast unmoeglich, ohne Auto von einem Quartier zum
anderen zu kommen. Videos aus der Nachbarschaft werden darum fast wie
Lokalnachrichten betrachtet. Doch gern gesehen werden solche Aktivitaten
langst nicht in allen Laendern der Welt: In Korea, dem Land der
Samsung-Videorekorder, sind oeffentliche Vorfuehrungen von Privatvideos
sogar streng verboten. Die koreanischen Videoaktivisten, die nach Amsterdam
gekommen waren, rechnen in ihrem Heimatland darum jederzeit mit ihrer
Verhaftung.
Aber auch im Westen kann die Arbeit mit Video immer noch fuer politischen
Wirbel sorgen: DeeDee Halleck von der New Yorker Video-Gruppe Papertiger TV
demonstrierte das am Beispiel des Videos "Zoned for Slavery". Der Film
dokumentiert, wie die amerikanische Klamottenfirma GAP in El Salvador Kinder
zu Hungerloehnen Jeans naehen laesst. GAP, eine Art US-Bennetton, wurde in
mehreren amerikanischen Staedten boykottiert, nachdem der Film in
Highschools gezeigt worden war. Die Umsaetze des Kleiderkonzerns sanken.
Im Vergleich zu so einer politischen Erfolgsbilanz nahmen sich die meisten
Netzprojekte, die in Amsterdam praesentiert wurden, eher bescheiden aus. In
punkto taktische Effizienz von Medien gewannen die "alten" Neuen Medien wie
Video im Vergleich zu dem "neuen" Neuen Medium Internet. "Der
durchschnittliche Arbeiterklasse-Cyborg" (Mark Dery) ist zur Zeit noch nicht
online, die Kommunikation im Cyberspace wird nur von einer Elite gefuehrt.
Auch die utopischen Vorstellungen von technischen Erweiterungen des
menschlichen Koerpers, die Donna Haraway in ihrem Buch "Cyborg-Manifesto"
beschreibt, seien nur technokratische Erloesungsvorstellungen. Peter Lamborn
Wilson vom New Yorker Anaro-Kollektiv Autonomedia vermutete hinter den
Vorstellungen von Cyborgs, die halb Mensch, halb Maschine sind, sogar eine
Rueckkehr von religioesen Transzendenz-Phantasien: "Das ist das christliche
Jenseits, das Technologie geworden ist."
Wie schon bei der ersten Next Five Minutes hatten die Veranstalter vom
Center for Old and New Media auch viele Medienaktivisten aus Osteuropa und
dem Trikont eingeladen. In diesen Laender wird immer noch vorwiegend mit den
"neuen Alten Medien" Radio und Video gearbeitet. "Ueber diese ganzen
Internet-Sachen habe ich noch gar nicht nachgedacht, bevor ich hierher
gekommen bin", sagte zum Beispiel Satuajit Sarkar aus Indien, der in seinem
Heimatland mit Kindern Videos dreht. "Hier fuehle ich mich so hilflos wie
die indischen Kids, die zum ersten Mal eine Kamera sehen."
Die neue Gilde der Medienaktivisten, die sich in Amsterdam versammelt hatte,
duerften in den naechsten Monaten die ersten Gegenreaktionen gegen den im
vergangenen Jahr erfolgreich etablierten Internet-Mythos zu spueren
bekommen. Ein Workshop der Next 5 Minutes beschaeftigte sich darum -
vorausschauenderweise? - mit Low End Technologie: Statt mit teuerem
Hightech-Equipment kann man eben auch mit Billigmedien wie Aufzieh-Radios
und Computern vom Schrottplatz arbeiten. Man muss bloss Ideen haben.
Tilman Baumgartel
Konferenzprotokolle der Next Five Minutes finden sich im Internet unter
http://www.dds.nl/~n5m.