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09-07-96
Date: Thu, 2 May 96 14:25 MDT
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From: Geert Lovink (by way of Pit Schultz )
Subject: Der kurze Sommer des Internet - Ein Gespraech mit Geert Lovink
Der kurze Sommer des Internet
Ein Gespraech mit Geert Lovink
Von David Link und Leander Scholz
Fuer NZZ
(Amsterdam, Maerz 1996)
Seit ueber zehn Jahren widmen sich der Amsterdamer Medientheoretiker
Geert Lovink und seine Agentur BILWET (Bevordering van de ILlegalen
WETenschap, das heisst: Befoerderung der illegalen Wissenschaft) den
Moeglichkeiten und Risiken der Computermedien. 1993 initiierte er PRESS
NOW, eine Kampagne zur Unterstuetzung unabhaengiger Medien im
ehemaligen Jugoslawien, 1994 gruendete er mit der Digitalen Stadt
Amsterdam eine der ersten "Staedte" im Internet. David Link und Leander
Scholz unterhielten sich mit ihm ueber Computer als Spielzeug und
Waffe, den Kampf um die Unabhaengigkeit des Internet und Unbekannte
Theorieobjekte.
NNZ: Koenntest Du kurz etwas zur Geschichte der Agentur BILWET
erzaehlen?
Lovink: Gegruendet wurde BILWET 1983 von Basjan van Stam. Wenig spaeter
stiessen einige andere Leute dazu, unter anderem auch ich, und seit
1985 sind wir zu fuenft: Arjen Mulder, Lex Wouterloot, Ger Peeters,
Basjan und ich. Wir sind eine lose Assoziation, kein Kollektiv. Anfangs
haben wir Film- und Psychoanalyse gemacht. Im Berliner Merve-Verlag
erschien damals die Zeitschrift TUMULT mit dem Untertitel
Verkehrswissenschaft. Das hat uns sehr inspiriert. Wir haben Verkehr in
der Folge sehr buchstaeblich aufgefasst und uns viel mit der Autobahn,
also mit dem tatsaechlichen Verkehr beschaeftigt, aber auch mit Sex als
Verkehr zwischen den Geschlechtern. Die Texte von Klaus Theweleit waren
fuer uns in dieser Phase sehr entscheidend. Dann, mit dem Aufkommen der
Datenautobahn, wurde eine neue Verkehrswissenschaft notwendig, eine
Form von ambulanter Wissenschaft. Wir stellen keine Thesen auf oder
arbeiten an einem geschlossenen Werk, sondern produzieren zunaechst
fiktive Konzepte, die irgendwann auf die Realitaet stossen. Diese
Konzepte nennen wir UTOs (Unbekannte Theorie-Objekte). Die UTOs lsoeen
etwas aus oder nicht, das haengt nicht von uns ab, sondern ist allein
eine Frage der sozialen Dynamik. In Deutschland versucht man oft, uns
mit unseren UTOs wieder in die Autorschaft zu zwingen. Aber es gibt
keinen Autor. Wir schreiben unsere Texte meist zu zweit und bilden dann
so etwas wie ein third mind, d. h. wir produzieren zusammen etwas ganz
anderes als jeder fuer sich. Das Medienverfahren der Agentur BILWET
geht weit ueber meinen Horizont hinaus. Die Texte sind
Gedankenexperimente, aus denen jeder von uns seine eigenen Schluesse
zieht.
N: Und wie laeuft dieser gemeinsame Schreibprozess konkret ab?
L: Wir setzen uns zu zweit oder zu mehreren zusammen und schreiben
etwas. Wenn es fertig ist, wird es kaum noch ueberarbeitet. Wir machen
den Zufallsgenerator an, der auf ein bestimmtes Reizwort anspringt und
so die Gedanken strukturiert. Bisher haben wir immer sehr intensive
Texte geschrieben und keine grossen Forschungsarbeiten, da das Format
fuer diese Art von Texten nicht geeignet ist. Wir sind kein Teil der
akademischen Diskursfabrik. Wir arbeiten ausserhalb dieser
Institutionen. Im Unterschied zu den akademischen Medientheoretikern
sind wir von der froehlichen, von der hedonistischen Fraktion
Amsterdam, das ist vielleicht unser touristisches Schicksal. Wir sind
nicht so furchtbar skeptisch den Medien gegenueber. Dennoch moechten
wir ihre Macht nicht nur im objektiven, sondern vor allem im
subjektiven Bereich relativieren. Wir denken, dass diese Form von
Lebenswelt die Leute nicht komplett beherrschen sollte. Medien sind
fuer uns Spielzeug, das man auch wieder in die Ecke stellen kann. Die
akademische Medientheorie ist dazu nicht in der Lage, weil sie ihr
eigenes Objekt viel zu ernst nimmt.
Medientheorie ist ja im Grunde kommerziell. Im Gegensatz zu Deutschland
sind communication studies beispielsweise in den angelsaechsischen
Laendern sehr marktbezogen ausgerichtet. Der Hauptzweig der
Medientheorie ist der, wo das Raetsel Publikum geloest werden soll. Sie
gehoert zum Designbereich, ist schon Teil des Medienbetriebs.
Medientheorie, die sich eher aus den Bereichen Philosophie und
Literaturwissenschaft speist, ist eher ein deutsches Phaenomen und
deswegen auch einmalig als touristisches Produkt zu verkaufen. Fangt
endlich damit an!
N: Gerade hast Du die Medien als Spielzeug bezeichnet. Auf der anderen
Seite engagierst Du Dich sehr ernsthaft in verschiedenen
Medienprojekten. Anfang 1994 hast Du mit der Digitale Stad Amsterdam
eine der ersten digitalen Staedte aufgebaut. Innerhalb dieses Projektes
setzt Ihr Euch fuer die Einrichtung von oeffentlichen
Internet-Terminals ein. Auch wenn Du innerhalb der Press Now-Initiative
fuer die Unterstuetzung unabhaengiger Medien in Ex-Jugoslawien
kaempfst, begreifst Du das Ganze nicht mehr als ein Spielzeug.
L: Nein, dann eher als Waffe. Aber auch diese Metapher ist
gefaehrlich. Dann benutzen wir das Medium naemlich naiv und im
klassischen Sinne, ohne uns zu fragen, was wir da benutzen. Man muss
die immanenten Eigenschaften dieser Medien sehr genau studieren. Das
hat die Generation vor uns nicht gemacht, obwohl sie sie sehr ernst
genommen hat. Sie hat die Medien entweder naiv als Waffe benutzt oder
pauschal als Kulturindustrie abgelehnt. Es gibt aber medienimmanente
Eigenschaften, die man geniessen und deren Verfuehrung man kennen
sollte. Wenn man beispielsweise die militaerische Herkunft dieser
Medien nicht kennt, oder das Verfuehrerische an anderen
Kulturpatterns, weiss man nicht, was man mit ihnen anfangen kann.
N: Koenntest Du kurz etwas ueber die PRESS NOW-Kampagne erzaehlen?
L: In Jugoslawien haben die Medien um 1989/90 bei der Ausnutzung der
oekonomischen Krise fuer nationale und ethnische Zwecke sowie bei der
Aufhetzung der Bevoelkerung eine entscheidende Rolle gespielt. Es gab
dort keine Fernsehrevolution wie in Rumaenien, keine Demokratisierung
der Medien, sondern eine ungeheure Machtkonzentration. Und da die
demokratische Opposition der Zamistat (die jugoslawische
Underground-Literatur) noch nicht weit genug gewachsen war, gab es kaum
Mittel, dagegen anzugehen. Piratensender und die wenigen freien
Zeitungen waren die einzigen Anfaenge einer demokratischen Kultur von
unten. Deshalb haben wir 1993 PRESS NOW gegruendet, eine Kampagne zur
Unterstuetzung unabhaengiger Medien im ehemaligen Jugoslawien, die sehr
erfolgreich war. Unsere Forderungen waren minimal, Grundprinzipien
einer medienorientierten Gesellschaft, um manipulative Tendenzen auf
Dauer zu verhindern. Eine unserer Haupthoffnungen war dabei Zamir, das
Computernetz der Antikriegsbewegung. Mittlerweile laeuft die Kampagne
europaweit und wir unterstuetzen dieses Netz, Wochenzeitungen und
verschiedene andere Medien.
N: Kurze Zeit spaeter wurde De Digitale Stad gegruendet. Was
interessiert Dich an diesem Einsatz von Medien?
L: Es geht uns um eine bestimmte Verortung, eine Verbindung von
Menschen in einer lokalen Kultur. Das ist der Sinn der Metapher Stadt.
Wir glauben, dass es keinen Sinn macht, sich an einer globalen Kultur
zu beteiligen. Wir moechten unsere eigenen Subsysteme aufbauen und die
muessen nicht nur auf Hollaendisch sein. Wir wuenschen uns
groesstmoeglichen Reichtum und Vielfalt. Deshalb setzen wir uns auch
sehr dafuer ein, dass beispielsweise in Kneipen oder Bibliotheken
oeffentliche Terminals eingerichtet werden. Nicht jeder muss einen
Computer besitzen. Mittlerweile hat die Digitale Stad ueber 50.000
Einwohner und das Wichtigste ist fuer uns die Kommunikation zwischen
ihnen. Wir sind - im Unterschied zu vielen anderen Projekten, die
hauptsaechlich Informationen anbieten - keine blosse Ansammlung von
web-Seiten. Die Beteiligung des Einzelnen ist uns wichtig, und deshalb
hat das Ganze auch eine Eigendynamik bekommen, die weit ueber das
urspruengliche Projekt hinausgeht. Wir stellen nur einen bestimmten
Rahmen, eine Infrastruktur zur Verfuegung. Wie die Bewohner sich dann
treffen, kommunizieren oder Spiele spielen, ist ihre Sache. Die Buerger
koennen die Stadt selbst mitgestalten.
N: Und wer kontrolliert diese Struktur? Gibt es einen Buergermeister?
L: Nein. Wir muessen ohnehin wegkommen von einer Betrachtung, die die
Struktur von realen Staedten eins zu eins auf digitale Staedte
uebertraegt. Es gibt keine Entscheidungsgremien. Moeglichst viele
sollen die Stadt mitgestalten.
N: Aber das heisst doch, dass die Entscheidungstraeger letztenendes
die Technokraten sind.
L: So ist es. Wenn wir die Maschinen ausschalten, geht nichts mehr.
Eigentlich muessten deshalb alle Technokraten werden. Damit moeglichst
wenige zentrale Organe entstehen, die ueber das Ganze entscheiden, muss
die Vernetzung im realen Raum weiter vorangetrieben werden. Compuserve
ist beispielsweise ein sehr zentralistisches System. Viele Leute
muessten endlich verstehen, dass im Netz nach wie vor viele
verschiedene Modelle nebeneinander existieren. Es gibt hierarchische
Netze, wo man sich zwar als guter Kunde fuehlt, aber auch von der
Zentrale zensiert werden kann. Das heisst, eigentlich handelt es sich
nicht einmal um Zensur, sondern man kauft sich - wie bei einer Zeitung
- ein Produkt, und wenn man nicht damit einverstanden ist, kauft man
ein anderes. Bei dezentralen Netzen hingegen funktionieren andere
Logiken. Man bemueht sich eher zu deregulieren.
N: Fuehrt diese Deregulation - jeder kann veroeffentlichen, was er
will, ohne dass so etwas wie ein Lektor die Dokumente gegenliest und
eventuell korrigiert - im Moment nicht auch dazu, dass ziemlich viel
Schrott im Internet herumliegt?
L: Bis jetzt ja. Aber das wird verschwinden, sobald der Markt voll ins
Internet eingedrungen ist. Was wir im Moment erleben, ist nur der
kurze Sommer des Internet. Es werden Lektorate kommen und die Industrie
wird das Ganze uebernehmen. Die Zeit des naiven Utopismus ist vorbei.
Jetzt dringt die Realpolitik ein. Natuerlich ist das Internet noch
immer ein neues Medium, ein Raum, den man offenhalten muss. Es gab
Versuche, das Internet bei den Vereinten Nationen als Land anzumelden
und John-Perry Barlow hat beispielsweise kuerzlich eine
Unabhaengigkeitserklaerung des Internet verfasst. Aber viele glauben,
dass dort etwas vollkommen Anderes passiert als in der realen Welt oder
in anderen Medien. Man darf die Macht der Nationalstaaten und die
Mechanismen des Marktes nicht unterschaetzen. Viele hoffen, dass die
Zeit des Staates vorbei ist und die internationalen Konzerne diese
Tendenz noch unterstuetzen. Ich bin da eher skeptisch. Ich moechte
eine realistische Analyse des Feindes machen. Mir ist Anarchie lieber
als Zensur. Ich bin der Meinung, dass dem Staat die Verfuegungsgewalt
ueber die Medien abgenommen werden muss und zwar konsequent. Die Rolle
des Radios im Faschismus, oder die komplette Kontrolle und
Manipulation der Medien im Ostblock zeigen doch sehr deutlich, was
diese Verfuegungsgewalt bedeutet. Und aehnliche Verhaeltnisse
herrschen noch in sehr vielen Laendern dieser Welt. Ich glaube, dass
die Demokratisierung der Medien dringend notwendig ist, und wenn dabei
tatsaechlich nur Schrott herauskommen sollte, bevorzuge ich
persoenlich Schrott vor Staatskontrolle. Die Demokratisierung oder
meinetwegen die Verschrottung der Medien muss weiter vorangetrieben
werden, damit Leute, die sich ihrer totalitaer bedienen wollen, sie
nie wieder in die Hand bekommen. Es ist vielleicht eine naive
Vorstellung, aber ich glaube an eine antifaschistische Medienpraxis.
Die koennen wir mit und im Internet konsequent vorantreiben.
N: Und welche Moeglichkeiten der Gegenwehr gibt es konkret?
L: Es wird Subnetze geben und eine Wiederkehr der Hacker. Im Moment
beschaeftigen sich viele von ihnen mit Agenten - Programmen, die fuer
den Anwender im Internet gezielt Informationen suchen, oder mit trash
generators, die Dokumente im Netz vervielfaeltigen und neu
zusammenbauen. Aber die Hacker, die jetzt das Netz aufbauen, werden
bald von der zunehmenden Kommerzialisierung aus diesem Paradies
vertrieben. Statt dem digitalen Konstruktivismus, der im Moment
vorherrscht, werden sie dann an den Raendern ihre Viruskanonen
aufmachen und das Netz wieder in Chaos versetzen. Aber es gibt auch
andere Konzepte, beispielsweise wandering websites. Das sind Seiten im
Internet, die nicht mehr lokal zu verorten sind. Faktisch werden ja
jetzt, um eine WebSite zu verhindern, die Rechner von der Polizei
beschlagnahmt. Und das widerspricht ganz der Erwartung der naiven
Utopisten, die dachten, der Cyberspace sei nicht mehr zu verorten. Aber
Cyberspace wird in Maschinen gelagert. In Finnland beispielsweise sind
die anonymous remailers, die im Fruehjahr 1994 an verschiedenen Stellen
auftauchten und es erlaubten, E-mails anonym zu verschicken, im Keim
erstickt worden. Die Polizei kam vorbei und beschlagnahmte die
Maschinen. Das ist ein gutes Beispiel dafuer, dass der Nationalstaat
siegen kann, wenn er herausgefordert wird. Es wird noch viele
Beispiele geben. Jetzt, wo der Internet-Hype langsam vorbei ist, wird
das Internet wieder richtig spannend.
N: Deiner Meinung nach muss also jetzt eine neue Cyber-Avantgarde
entstehen, um diese Zensur zu verhindern?
L: Ich sage ungern Zensur, um die wirkliche Zensur nicht zu
verharmlosen. Ueber Zensur kann man in der Londoner Zeitschrift Index
on Censorship nachlesen, wo es um den richtigen Kampf geht. Was im
Internet passiert, ist geordnete Kommunikation. Das neue Medium hat
nicht, wie erwartet, zu einem Paradigmenwechsel gefuehrt. Leider. Und
diese Fragen sind fuer ungeheuer viele Leute wichtig, weil ihr Leben
damit zusammenhaengt, nicht im existentiellen Sinne, aber im Rahmen der
Sinngebung und der Steuerung von Taetigkeiten und Gedanken.
Uns stellt sich heute die Medienfrage, so wie sich Ende des 19.
Jahrhunderts die soziale Frage gestellt hat. Ich hoffe, dass wir darauf
eines Tages eine Antwort geben koennen. Auch bei der Agentur BILWET
fragen wir uns oft, ob es eine Welt nach den Medien gibt. Oder ob wir
nur noch weiter in die Welt der Bilder und der Digitalitaet
hineinklettern koennen. Ich glaube nicht, dass die Welt durch eine
perfekte Simulation ersetzt werden kann, nicht einmal, dass die
Oekonomie in Zukunft durch digitale Informationen gesteuert wird. Fuer
mich ist es eine totalitaere Denkweise, dermassen von den Medien
besessen zu sein, dass man glaubt, diese Medien seien das Ganze. Das
Ganze ist immer noch das Unwahre. Bei Medientheoretikern wie Flusser
gibt es keine Welt nach den Medien, keinen Seitenausgang. Diese
Menschen scheinen nicht spazierenzugehen. Das stoert mich, denn wir
muessen zwar dieses abgeschlossene Universum der Bilder erforschen, um
uns darin zu orientieren, aber ich glaube nicht, dass es die Welt
beherrschen wird. Und wenn dem sowaere, dann muesste man sich
mssglichst bald dagegen wehren, weil die Digitalitaet doch nur ein ganz
duenner Abklatsch von dem ist, was das Leben einfach beinhaltet.
Geert Lovink, Medientheoretiker und Mitglied der Agentur BILWET
(Bevordering van de ILlegalen WETenschap (Befoerderung der illegalen
Wissenschaft), lebt und arbeitet in Amsterdam und Budapest. Aktuelle
Arbeitsschwerpunkte: Draculaland Rumaenien, unabhaengige Medien im
ehemaligen Jugoslawien, der touristische Blick, Datendandyismus,
Medienoekologie. Veroeffentlichungen der Agentur BILWET: Bewegungslehre
(Berlin 1991), Das Medienarchiv (Duesseldorf 1993), Der Datendandy
(Mannheim 1994).
Projekte im Internet:
De Digitale Stad: http://www.dds.nl
Agentur Bilwet: http://thing.desk.nl/bilwet
Netzkritik: http://www.desk.nl/nettime