»Medien/Theorie/Geschichte« Nr. 2 (November 1996) | [ ? ] [ × ] |
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»Auge und Blick, dies ist für uns die Spaltung, in der
sich der Trieb auf der Ebene des Sichtfeldes manifestiert.«1
Im letzten Kapitel seiner Monographie über Giottos Arenafresken
erläutert Imdahl in Auseinandersetzung mit dem ikonographisch-ikonologischen
Verfahren Erwin Panofskys und kunstphilosophischen Prämissen
Konrad Fiedlers seine eigene mit dem Begriff der »Ikonik«
bezeichnete Interpretationsmethode: diese allein berücksichtige
- im Unterschied zu den jeweils mit einem spezifischen blinden
Fleck behafteten Sichtweisen der anderen- die »ikonische
Ausdrucksmacht des Bildes«2. Denn dem »wiedererkennenden
Sehen« (Panofsky zugeordnet) gerinnt das Kunstwerk zu einem
Gegenstand des (Vor)wissens; sein Eigensinn ist in seinem kulturellen,
historischen etc. Kontext »auflösbar«, d.h. die
Ikonologie macht es sich zur Aufgabe, durch es hindurch die »wesentlichen
Tendenzen des menschlichen Geistes«3 zu erkennen. Das »sehende
Sehen«, das Konrad Fiedler proklamiert, heftet sich dagegen
an die Oberfläche eines Bildes, macht es zum Ereignis einer
rein physiologisch gedachten Tätigkeit des Gesichtssinns,
das durch kulturelles (Vor)wissen und abstraktes Denkvermögen
nur behindert werden kann. Beiden Richtungen wirft Imdahl Reduktionismus
vor. Dagegen wird der
»Ikonik (wird) das Bild zugänglich als ein Phänomen, in welchem gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung sowohl einschließenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität.«4
Auch Roland Barthes spricht in »La chambre claire« von
zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen, bzw. Interessen, die
er Bildern - in seinem Fall fotografischen - entgegenbringt. Die
eine, die er als studium bezeichnet, läßt sich
durchaus in Deckung bringen mit dem wiedererkennenden Sehen:
»Aus studium interessiere ich mich für viele Photographien, sei es, indem ich sie als Zeugnisse politischen Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätze: Denn als Angehöriger einer Kultur (...) habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen.«5
Anders das punctum:
»Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.(...) in der Tat punktiert, manchmal geradezu übersät sind von diesen empfindlichen Stellen (die von Barthes besprochenen Fotografien, S.H.); und genaugenommen sind diese Male, diese Verletzungen Punkte. Dieses zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt - und: Wurf der Würfel.«6
Dieses Element, die eine rein auf ästhetische Anschaulichkeit rekurrierende traditionelle Kunstwissenschaft m.E. bislang vernachlässigt hat, ist jedoch nicht dazu angetan, in dialektischer Ergänzung des studiums eine höhere Sinntotalität zu vermitteln, sondern markiert gerade deren Durchbrechung und somit eine Verunsicherung in der Erfahrung des Sehens, die Jacques Lacan als Spaltung von Auge und Blick bezeichnet hat.7 In dem Seminar, das u.a. die Wirkung von Kunstwerken behandelt8 bezeichnet er mit Auge das Sehen, als dessen Ausgangspunkt sich das souverän glaubende Subjekt wähnt: es glaubt nicht nur das Blickfeld kontrollieren zu können, sondern auch »sich sich sehen sehen« zu können. Diese Erfahrung findet ihre Entsprechung in der geometralen Optik, die mit Hilfe von Augenpunkt und Fluchtpunkt einen vermeßbaren, »tastbaren« Raum konstruiert. Der Blick als Objekt a dagegen entzieht sich jeder Art des Sehens, »das sich selbst genügt, indem es sich als Bewußtsein imaginiert«9. Er entkleidet vielmehr das Subjekt seiner Souveränität, es wird von einem Ort angeblickt, den es selbst nicht einnehmen kann: es wird von etwas bedroht, das vom Bild, von den Objekten selbst ausgeht (»die Dinge blicken mich an/gehen mich an - me regarde«) und einem blinden Fleck im optischen Feld gleichkommt.
Dieses »Erblicktwerden« trifft z.B. den Voyeur, der in der Hingabe an die Schaulust vom Blick eines Anderen (und sei es nur imaginiert) ertappt wird - wodurch sich das Sehen erst als etwas Triebhaftes (und insofern der Kontrolle des Subjekt Entzogenes) »entdeckt« -, oder manifestiert sich im Gefühl des Unheimlichen, das sich einstellt, wenn etwas nicht Identifizierbares, Ambivalentes, Vages ins Blickfeld gerät - hundertfach erprobt im Genre des Horrorfilms als Antizipation des namenlosen Schrecken, dessen Ursache sich dem Zuschauer noch entzieht, der sich aber in den geweiteten Augen, dem Schrei einer Filmheldin ankündigt.
Als ein Oszillieren zwischen Befriedigung der Schaulust und Erzeugung
von Unbehagen beschreibt Urf Erdmann Ziegler im Katalog zur Hamburger
Ausstellung die Wirkung von Cindy Shermans Bildern:
»Wohl der auffallendste Zug der Photoarbeiten von Cindy Sherman
ist die seltsame Anziehungskraft, mit welcher sie auf den Zuschauer
wirken. Wie beim Betrachten von Filmen Alfred Hitchcocks erlebt
man vor den unbetitelten Bildern der Amerikanerin eine intensive
Mischung von Gefühlen und Empfindungen, die zwischen Faszination
und Unbehagen, Lust und Schrecken angesiedelt sind.«10
Der Vergleich mit Hitchcock mag durch den Bezug von Shermans Fotografien
zu filmischen Mythen nahegelegen haben; Hitchcock ist jedenfalls
immer noch die erste Referenz, wenn es um die spezifisch filmische
Erzeugung des Unheimlichen geht. So haben Slavoj Zizek u. A. Lacans
Blicktheorie an seinen Filmen konkretisiert. Zizek zeigt z.B.
in dem Aufsatz »Der Hitchcocksche Schnitt: Pornographie,
Nostalgie, Montage«11, wie es Hitchcock mittels einer ganz
spezifischen Montagetechnik gelingt, das Beunruhigende des Blicks,
die Spaltung zwischen Auge und Blick aufscheinen zu lassen. Dagegen
verdecken sowohl die Pornographie als auch die Nostalgie das Paradoxon
der Wahrnehmung. Die Pornographie degradiert laut Zizek den Betrachter
selbst zum Objekt seines Triebes (und nicht etwa die Akteure im
Film), indem sie alles zu sehen gibt, was dieser zu sehen begehrt.Die
Nostalgie verschleiert dagegen die Spaltung, in dem sie einen
»naiven« Zuschauer einführt, dessen Blick wir (die
aktuellen Betrachter) sehen können, was uns eine souveräne,
d.h. distanzierte Position sichert. Zizek verdeutlicht dies am
Beispiel der Faszination für den »film noir« der
vierziger Jahre:
»Was ist eigentlich so faszinierend an ihm? Es ist klar, daß wir uns nicht mehr mit ihm identifizieren können (...) - und trotzdem bedroht diese Art von Distanz keineswegs ihre Faszinationskraft, sie ist vielmehr deren eigentliche Bedingung. Denn uns fasziniert ein bestimmter Blick, der Blick des »Anderen«, des hypothetischen, mythischen Zuschauers der vierziger Jahre, der sich noch unmittelbar mit dem Universum des film noir identifizieren konntedurch sie absorbiert, verzaubert ist (...) Wir sind fasziniert vom Blick des mythischen, »naiven« Zuschauers, der »das noch ernst nehmen konnte«, der für uns, an unserer Stelle »daran glaubt«. Deshalb ist unsere Beziehung zum film noir immer geteilt und gespalten zwischen ironischer Distanz und Faszination: ironischer Distanz zu seiner diegetischen Realität, Faszination durch den Blick.«12
Als »Verfahren« eingesetzt wird die Nostalgie in sogenannten
Retro-Filmen (die z.B. im Stil des film noir gedreht werden):
»Fragmente der Vergangenheit, die als Objekte der Nostalgie dienen, werden aus ihrem historischen Kontext, aus ihrer Kontinuität gelöst und in eine Art von mythischer, ewiger, zeitloser Gegenwart eingefügt.«
In diesem Sinne könnte man auch Cindy Shermans »Untitled
Film Stills« als »Retro-Bilder« bezeichnen: Vermeintlich
aus der Kontinuität einer Filmhandlung gerissen, zeitlich
nicht genau zu verorten - zumindest nicht in der Gegenwart ihrer
Erstellung - fungieren sie als nostalgische Objekte, die über
die Instanz des »naiven Zuschauers« einen noch nicht
von feministischer Kritik und emanzipatorischen Anstrengungen
belasteten Genuß einer über Verträumheit und emotionales
Affiziertsein (von Williamsen so schön als »imprintidness«
bezeichnet13) definierten Weiblichkeit ermöglichen. Sie bieten
sich an als Falle für den nostalgischen Effekt, dem einige
Interpreten denn auch voll erlegen sind. Als Beispiel sei hier
noch einmal Arthur Danto14 zitiert, der sich über die »Film
Stills« in eine mythische Zeit vor der Geschlechterdifferenz
versetzt sieht: die »Mädchen«, wie er die Protagonistinnen
der »Film Stills« nennt, werden für ihn »zur
Allegorie für etwas Tieferes, Dunkleres im mythischen Unbewußten
eines jeden, gleich welchen Geschlechts.« Und es gelingt
ihm auch, in den vielen Frauen der Bilder wieder die Eine zu finden:
»Es ist, als verschwände ihr eigenes Gesicht unter tausend Gesichtern, als gelte es, das metaphysische Argument zu führen, daß jede Frau das Mädchen ist, das immer gleiche, wie anders auch immer.«15
Es wird deutlich, was für eine Funktion die nostalgische Lesart der »Film Stills« für Danto einnimmt: sie macht eine »naive« Sichtweise wieder möglich, ein »unschuldiges« Sehen, das die durch die feministische Kunst aufgeworfene Problematik des männlichen voyeuristischen Blicks, der »Die Frau« als Objekt unterwirft bzw. fetischisiert - man könnte in diesem Zusammenhang sagen, die feministische Kritik fungiert gewissermaßen als Blick des Anderen, der den Mann beim Sehen erblickt - , wieder zudeckt. Das Mädchen, das »selbst sich dessen manchmal nicht bewußt ist«16, das nicht sieht, daß es gesehen wird, wird zur Garantin des noch unschuldigen Sehens, dem nicht das Triebhafte des Blicks anhaftet.
Die »Film Stills« können durch diese Wirkung wiederum fungieren als Beobachtungen, wie Männer Frauen beobachten (oder allgemeiner: wie ein »männlicher Blick« Frauen beobachtet, d.h. fetischisiert - man kann natürlich auch als Frau dem nostalgischen Effekt unterliegen). Sie bleiben jedenfalls »Kippbilder«: Man kann sich vom Blick des Anderen faszinieren lassen oder den Blick richten auf ihre Serialität, die Produziertheit, die Unstimmigkeiten innerhalb der einzelnen Fotos und sie als Analysen der nostalgischen Verfahrensweise »entzaubern«17.
Unvermeidlich geworden ist die Ent-täuschung jedoch bei der
Serie der »Sex Pictures«, aus denen Sherman als Modell
denn auch gänzlich verschwunden ist. Diese Fotos zeigen aus
für anatomische Anschauungszwecke hergestellten Körperteilen
und SM- und Halloween-Zubehör zusammengesetzte Puppen in
Arrangements, die diese gewissermaßen als Ergebnis eines
perversen Blicks ausstellen - eines Blicks, der »ergründen
will, was nun dahintersteckt, das so sinnezermürbend sein
soll, daß jeder es tun oder sich wenigsten ansehen will«18.
Ähnlich wie in Elfriede Jelineks Roman »Lust«19,
wird der Erwartung an eine »weibliche« Pornographie
eine Abfuhr erteilt und dagegen auf die Medien rekuriert, die
jedem Verlangen mit ihren Bildern zuvorkommen:
»Da seid ihr endlich in eurer Haut, und eure Lust bleibt
immer diesselbe! Die ist eine Kette von Wiederholungen, die uns
mit jedem Tag weniger gefallen, weil wir durch die elektronischen
Medien daran gewöhnt sind, jeden Tag etwa neues ins Haus
geliefert zu kriegen.«20
Die beiden Pole, die mit den »Film Stills« und den »Sex Pictures« gegeben sind, verdienen einer näheren Betrachtung.
Als Einzelbilder gesehen partizipieren die »Film Stills« an der Wirkung der filmischen Technik der Großaufnahme. Die Großaufnahme ist in der Regel identisch mit der Fokussierung der Kamera auf das Gesicht eines Protagonisten. Das Gesicht (- sofern es noch nicht einer elektronischen Beschleunigung bzw. Verzerrung ausgesetzt ist, mit der die von Birgit Richard in diesem Band analysierte Arbeit »Motion Control« der Künstlergruppe Granular Synthesis das Antlitz zerstört) wird eingesetzt als Leinwand von Gefühlen und Affekten, ist »unbewegliche Empfangsfläche, rezeptiver Einschreibungsträger«21. In seiner Kinotheorie hat Gilles Deleuze die Großaufnahme denn auch mit der Bezeichnung »Affektbild« belegt. Obwohl es die Diegese durchbricht, von allen raumzeitlichen Koordinaten abstrahiert, ist es nicht als Partialobjekt aufzufassen, sondern wird von Deleuze mit der Pierce'schen Kategorie der Erstheit in Verbindung gebracht, mit dem Qualizeichen als reiner Potentialität: Möglichkeit ohne Aktualisierung. Für Deleuze ist die Großaufnahme immer Gesicht, und daher kann jedes Bild zum Affektbild werden, z.B. durch das formale Mittel der Unschärfe.
Auch in den »Film Stills« ist es oft nicht die Ausschnittwahl,
die die Fotos zu Affektbildern werden läßt, sondern
der Schleier der Grobkörnigkeit, der sich über eine
abgelichtete Szene legt. Auch wenn die Protagonistin in einer
Bewegung begriffen gezeigt wird, bleibt der Charakter der Potentialität
bestehen. So äußert Jörg Heiser in seiner Besprechung
der Hamburger Ausstellung die meiner Meinung nach treffende Beobachtung,
daß Shermans Protagonistinnen meist in einer Situation vor
der Artikulation festgehalten werden, einer aufgehaltenen Kommunikation:
»Shermans Photographien rahmen genau das, was noch nicht
oder nicht mehr durch direkte Kommunikation erfaßt werden
kann oder will - die Spuren eines immer aufgeschobenen oder verhinderten
Sprechens, die Leere eines steckengebliebenen Schreis, die unartikulierte
Ankündigung einer drohenden Artikulation.«22
Diese Potentialität bildet nicht zuletzt die Leerstelle, in die sich der Betrachter mit seinen eigenen Imaginationen einschreiben kann.
Das »Untitled Film Still # 56« (1980) verdichtet die Merkmale, die ein Affektbild ausmachen in besonderem Maße. Es handelt sich um ein »flaues«, grobkörniges Foto ohne tiefe Schwärzen - es ist von einer durchgehenden Grauwertigkeit abgesehen von schimmernden Lichteffekten. Zu sehen ist das Gesicht einer Frau, das als Spiegelung gegeben ist: der linke Bildrand zeigt den angeschnittenen Hinterkopf der Frau. Dennoch scheint sie sich nicht selbst im Spiegel zu betrachten - ihr Blick geht vielmehr in eine unbestimmte Ferne; sie steht möglicherweise vor einer Scheibe, die nur für den Betrachter opak ist. Durch Beleuchtung von hinten wird das Haar der Frau in einen schimmernden Glanz getaucht23, während das Gesicht selbst im Schatten liegt (dem Schatten des eigenen Kopfes), der im engeren Bereich von Auge, Mund und Nase noch verdoppelt wird. Es ist ein Bild voller Vagheiten und Unschärfen - auf der Inhalts- wie Ausdrucksebene. Zu dem unbestimmten Gesichtsausdruck der Frau gesellt sich die räumliche Unbestimmtheit der dargestellten Situation; formal scheint die Situation der Selbstbespiegelung - Selbst-Reflexion gegeben, sie wird aber nicht »gefüllt« mit dem Bewußtsein eines Subjekts, es ist nur Gegenstand passiver Reflexionen.
Mit dem tieferen Schatten auf der Gesichtszone der Frau kommt ein Fleck (im Sinne von Lacans Blicktheorie) ins Bild: physikalisch zwar durchaus als Schatten des Kopfes der Frau ableitbar wirkt er auf psychischer Ebene - der Ebene, die das Bild mit der Imagination des Betrachters kurzschließt - wie ein Schatten, den der Betrachter selbst - aus dem Off - ins Bild wirft. Es ist sein Blick, der das Bild verdunkelt und so im Bild sichtbar wird.
Die »Film Stills« führen - wohlgemerkt als Einzelbilder - die mediale Produktion von Weiblichkeit als Projektions- und Einschreibefläche vor, wobei besonders das Gesicht der Protagonistinnen Affekträger ist, »gläserne Haut der Innenwelt« oder auch »ungreifbare Morphologie einer nie gesehen Landschaft«24 , (vgl. hierzu auch Anmerkung 13).
Mit dem Foto »Untitled # 262« (1992) zerreißt Sherman entgültig den Schleier und zeigt die größtmögliche Annäherung an das Trauma, an dessen Stelle sich die Phantasmen von Weiblichkeit als Psyche aber auch als Femme Fatale setzen: das weibliche Genital als Kastriertes, das den Mangel beider Geschlechter »entdeckt« (und gleich wieder zudeckt). In einem riesigen Bow-up (190,5*152,4) zeigt sie in einer leichten Diagonale die Region zwischen Anus und Vagina. Der Ausschnitt ist so gewählt, daß nicht einmal Ansätze gespreizter Schenkel zu sehen sind - das Bild ist jeglicher Pose/Position entblößt, die eine obszön/pornographiesche »Lesart« noch ermöglichen könnte. Die rasierte Haut und das Fleisch um die Körperöffnungen ist himbeerfarbig entzündet, das Foto scheint also eher dem Horrorarsenal medizinischen Anschauungsunterrichts entsprungen. Die Aussage, »daß man sofort (Hervorhebung S.H.) erkennt, daß das Bild mit Hilfe einer (sehr sorgfältig präparierten) Puppe gemacht ist«25, halte ich - auch wenn es stimmt - schon für eine Schutzbehauptung, die die Irritation (und die sexuell/medizinische Neugierde), die das Bild auslöst, vorschnell zudeckt. Das Bild kommt einer Darstellung des Genießen als Reales, wie Lacan es auffaßt, am nächsten - in der Weise, wie es laut Zizek die Wunde des Jungen in Kafkas »Landarzt« bezeugt: »ein grauenhaftes Körpermal, das nur stumm ein ekelhaftes Genießen bezeugt, ohne irgendetwas oder irgendwen zu vertreten.«26
Die saugenden Löcher konfrontieren den Betrachter mit seinem eigenen Schautrieb, dem »Appetit des Auges«, den Lacan auf einer »viel niedrigeren Ebene (sucht), als man annehmen könnte: in dem, was es mit der wahren Funktion des Augenorgans auf sich hat, das Auge voll Gefräßigkeit, das der böse Blick ist.«27
So »rahmenlos« sich dieses Foto auch präsentiert, es bleibt dennoch nur eine Annäherung an das Reale, das sich jeglicher Darstellbarkeit entzieht: denn »Letztes sieht keiner; selbst wenn man die Frau aufschnitte, sähe man nur Gedärme und Innenorgane.«28
Die Bilder, die der Serie der Sex Pictures folgen, »bekleiden«
sich denn auch wieder: treten erneut als Maskeraden, als Anspielung
auf surrealistische Mythen und auf Märchenstoffe auf.
Shermans Bilder sind keine nostalgischen Filme, in denen man sich verlieren kann, sie sind auch keine Schockbilder, die es sich zur Aufgabe machen, die Grenze des Darstellbaren weiter nach vorne zu treiben, wie dies beispielweise Horrorfilme und Pornographie tun. Sie partizipieren zwar an deren Effekten, verhalten sich aber auch analytisch dazu. Es gibt kein Entrinnen aus der Bilderflut, aber die Möglichkeit, Bilder anzuhalten - stillzustellen - und ihrer Wirksamkeit zu dekonstruieren. Insofern erfüllen auch Shermans Fotos als Kunst die Funktion, der »Blickzähmung«, der »Niederlegung des Blicks«, die Lacan der Kunst zugesteht.
Shermans Vorgehensweise ist die der klugen Schwester in Grimms
Märchen »Fitchers Vogel«, das sie 1992 mit Fotos
illustriert hat.29: Anders als die zwei Schwestern vor ihr, läßt
sich die jüngste und klügste nicht von dem Schrecken
lähmen, der der Anblick der zerstückelten Leiber im
blutigen Kessel bietet (um in der Folge selbst darin zu landen),
sondern macht sich daran, die Glieder wieder zusammensetzten (daß
bei Sherman allerdings keine ganzen Körper dabei herauskommen,
nimmt nicht wunder, denn wir befinden uns nicht im Märchen).
Dieser Haltung entspricht auch Sherman Einstellung zum Horrorfilm:
»I love horrorfilms, but I like them because they function in the same way fairy tales do in allowing society to see something very grewesome and hard to deal with, which somehow physically prepares us for our own death. Or prepares us for the potential of violence in our live.«30
Es gibt ein schönes Bild in der Serie der »Film Stills«, das sich als Metapher für Shermans Vorgehensweise anbietet - sich dem Risiko der Bilder (und der Identifizierung mit ihnen) auszusetzen, aber nicht von ihnen verschlungen zu werden: Auf dem »Untitled Film Still # 46« ist eine Schwimmerin zu sehen, die den Kopf zum Betrachter dreht. Anders als in den anderen Film Stills blickt die Protagonistin den Betrachter direkt an - allein diese Ausnahme macht es zu einer Art Metabild. Ironisch kommentiert wird auch das Spiel der Maskerade - in Form der Tauchermaske, die ihren Blick abschirmt - und das Narzißmotiv mit seinem Einsatz des Wassers als Medium der (tödlichen) Selbstbespiegelung. Die Protagonistin/Künstlerin ist jedoch nicht fixiert auf ihr Spiegelbild bzw. das Szenario, das sie aufbaut; sie hat die Oberfläche durchbrochen und ist in das Medium selbst eingedrungen, läßt sich von ihm tragen, kann es aber auch in Bewegung versetzen, Resonanzen erzeugen: das Wasser/Medium hat nicht mehr die Funktion der spiegelnden Oberfläche, sondern wird selbst signifikant.
Nichtzuletzt signifiziert die Schwimmerin mit der Tauchermaske die ständige Bereitschaft, abzutauchen, zu verschwinden, sich den Blicken gänzlich zu entziehen - um vielleicht an unerwarteter Stelle wieder aufzutauchen.
Leserbrief an Susanne Holschbach | |
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