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  Herbert A. Meyer

Meyer, H.A. & Hänze, M. (1992). Dissoziation von impliziten und expliziten Erinnerungseffekten beim Hören. In L. Montada (Hrsg.), Bericht über den 38. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (Band 1, S. 269). Göttingen: Hogrefe.

  • Pressetext

    Der Begriff Gedächtnis wird normalerweise mit bewußter Erinnerung in Verbindung gebracht. Die klassischen Behaltenstests - Wiedererkennung und freie Reproduktion - beziehen sich dementsprechend auf Erinnerungsspuren, die dem Bewußtsein zugänglich sind. Aktuelle Befunde der Gedächtnisforschung legen jedoch die Vermutung nahe, daß das menschliche Gedächtnis auch weniger offensichtliche Funktionen erfüllt. Es hat sich gezeigt, daß bestimmte Ereignisse nachfolgendes Verhalten beeinflussen können, ohne daß beabsichtigte oder sogar bewußte Erinnerungen an diese Ereignisse notwendig existieren müssen. Solche Erfahrungsnachwirkungen kennzeichnet man heute mit dem Begriff "implizites Gedächtnis". Ihm gegenübergestellt ist der Begriff "explizites Gedächtnis" für bewußte Behaltensformen. Seit mehreren Jahren hat sich vor allem in den USA eine nahezu eigenständige "implizite Gedächtnis-Forschung" etabliert, die rasch expandierte und Nachbargebiete der Kognitionspsychologie nachhaltig beeinflußte (So kursieren bereits die Begriffe "implizites Lernen" und "implizites Wissen").

    Besonderes Interesse hat die Forschung über implizite Erfahrungsnachwirkungen durch die Demonstration beeindruckender Phänomene im Zusammenhang mit massiven Ausfällen bei klinischen Stichproben geweckt. So konnte bei experimentellen Untersuchungen mit Amnestikern gezeigt werden, daß hier ein totaler Ausfall bewußter Erinnerungen Hand in Hand mit durchaus normalen unbewußten Gedächtnisleistungen geht. Auf einen weiteren spektakulären Befund weisen Studien mit anästhesierten Probanden hin. Hier konnte festgestellt werden, daß während einer Operation dargebotene auditive Stimuli deutliche implizite Erinnerungseffekte nach sich zogen. Diese Ergebnisse haben u.U. erhebliche Verhaltenskonsequenzen für klinisches Personal im Umgang mit anästhesierten Personen. War man bislang aufgrund von Ergebnissen expliziter Tests der Meinung, es gäbe keine Erinnerung an Gespräche, die während eine Operation ablaufen, so muß man jetzt feststellen, daß es sehr wohl Erinnerungen - wenn auch dem Bewußtsein nicht direkt zugänglich - gibt.

    Die Orientierung an überraschenden empirischen Befunden und die lediglich operationale Definition des Begriffes "implizites Gedächtnis" lassen nicht verwundern, daß die theoretischen Klärungsversuche zu impliziten Phänomenen noch am Anfang stehen. Im Grunde stehen sich zur Zeit zwei Erklärungsmodelle gegenüber. Die Arbeitsgruppe um Endel Tulving und Daniel Schacter vertritt dabei den gewagtesten Ansatz. In ihrem vielbeachteten "Science"-Artikel fordern sie zur Erklärung impliziter Gedächtniseffekte die theoretische Annahme eines eigenständigen Gedächtnissystems ("perceptual representation system").

    Unsere Arbeitsgruppe konzipierte ein Verfahren, welches die Analyse impliziter Erfahrungsnachwirkungen in der akustischen Sinnesmodalität erlaubt. Dabei werden zu erkennende Wörter verrauscht dargeboten und sollen erkannt werden. Mit einer ersten Serie von Experimenten (studentische Probanden) konnte erwartungsentsprechend nachgewiesen werden, daß tief verarbeitete Information bei explizitem Abruf wesentlich besser behalten wurde als oberflächlich verarbeitete Information. Diese Differenz zeigte sich jedoch nicht bei impliziten Erinnerungsmaßen. Im Gegenteil, sie kehrte sich sogar um: Oberflächlich verarbeitete Information konnte aus Rauschen besser und schneller herausgehört. Unsere Ergebnisse zeigen, daß unbewußte Gedächtnisleistungen anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind als bewußte Erinnerungsleistungen und belegen damit die Differenzierung von implizitem und explizitem Gedächtnis.

  • Zusammenfassung

    Wie Wippich und Mecklenbräuker (in Druck) vermuten, nutzen wir im Alltagsleben beiläufige, implizite Erfahrungsnachwirkungen häufiger als explizite Reproduktions- oder Wiedererkennungsbemühungen. Nun ist es aber so, daß wir im Alltagsleben überwiegend mündlich kommunizieren, wohingegen in der Forschung über implizite Effekte die vergleichsweise alltagsfernere Präsentation von Schriftsprache per Bildschirm dominiert. Ziel unserer Untersuchung war es daher, die Bedeutung impliziter Effekte auch für den akustischen Bereich nachzuweisen.

    Von impliziten Erinnerungseffekten wird dann gesprochen, wenn in einer Erwerbsphase (ohne Behaltensinstruktion) gehörte Worte in einer Prüfphase spezifische Nachwirkungen zeigen. Theoretisch bedeutsam wird die Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten Effekten durch verschiedene Dissoziationen, die sich z.B. darin zeigen, daß sich experimentelle Variationen der Verarbeitungstiefe in der Erwerbsphase auf implizite, nicht jedoch auf explizite Behaltensleistungen auswirken. Prozeßansätze erklären die unterschiedlichen Leistungen durch den Einsatz unterschiedlicher Operationen und Abrufprozesse (datengetriebene vs. konzeptgeleitete Prozesse). Bei der Realisierung von impliziten Erinnerungseffekten muß nach diesem Ansatz darauf geachtet werden, daß die Enkodierungsprozesse der Erwerbs- und Prüfphase vergleichbar sind (aufgabenangemessener Transfer). Um implizite Effekte beim Hören auf datengetriebener Ebene untersuchen zu können, entwickelten wir ein akustisches Testverfahren, daß sich an dem Verfahren der perzeptuellen Identifizierung im visuellen Bereich orientiert.

    Bei der Durchführung des Experiments erfolgte die Präsentation der Wörter über Kopfhörer, die Sprechstimme blieb über die einzelnen Phasen gleich. In der Erwerbsphase wurden 50 Wörter ohne explizite Lerninstruktion im Fünf-Sekunden-Takt dargeboten; die Wörter wurden semantisch elaboriert (Konkretheitseinschätzung) oder nicht semantisch elaboriert (Zählen der Vokale) bearbeitet. Im Anschluß an eine zehnminütige Distraktoraufgabe folgte die implizite Prüfphase. Dabei wurden zu erkennende Wörter in unterschiedlichen Verrauschungsstufen mehrmals dargeboten. Bei jedem Wort nahm das Rauschsignal in einer festgelegten Reihenfolge systematisch ab und das Sprachsignal stieg proportional dazu an, bis das jeweilige Wort erkannt wurde. Es ergaben sich eindeutig interpretierbare Befunde. Bereits in der Erwerbsphase präsentierte Zielwörter wurden schneller erkannt als neue Zielwörter. Dieser implizite Wiederholungseffekt blieb von der Verarbeitungstiefe unbeeinflußt. Dagegen zeigten die nachfolgend erfaßten expliziten Erinnerungsleistungen (Wiedererkennung) den erwarteten Elaborationseffekt. Die Ergebnisse dieser Studie belegen also die Dissoziation von impliziten und expliziten Effekten beim Hören von Wörtern der Alltagssprache. Sie begründen weitere Untersuchungen mit Hilfe des neu entwickelten Verfahrens der perzeptuellen Identifizierung im akustischen Bereich.

    Wippich, W. & Mecklenbräuker, S. (in Druck). Vorstellen und Tun fördern implizite und explizite Erinnerungen an Texte. Archiv für Psychologie.

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