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  Herbert A. Meyer

Aufmerksamkeit bei der Rezeption von interaktiven Medien

Innerhalb der Massenmedien scheint die Auffassung zu herrschen, daß ständig etwas Neues geboten werden muß, um damit die vermeintliche Aufmerksamkeit der Rezipienten aufrechtzuerhalten. Beispielhaft sei hier auf die schnellen Schnitte in den Videoclips hingewiesen, die in Fernsehsendungen immer mehr angewandt werden. Informationen werden in immer kleineren Dosierungen angeboten und es kann vermutet werden, daß sie nicht mehr unbedingt nach ihrem inneren Zusammenhang aufbereitet werden, sondern in der Weise, daß sie auch kurzfristig noch genügend Aufmerksamkeit an sich binden. Die menschlichen Informationsverarbeitungsvorgänge könnten dementsprechend kurzatmig werden und die regelmäßigen Nutzer bestimmter Massenmedien ihre Fähigkeit verlieren, die Implikationen einer Information noch in ihren Verästelungen zu verfolgen.

Die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Fragestellung hat sich als schwieriges Unterfangen herausgestellt. Letztlich geht es nicht nur um die Frage: "Was machen die Medien mit dem Menschen?", sondern darüberhinaus auch um die Frage: "Was macht der Mensch mit den Medien" (vgl. Sturm, 1975). Zum Stand der Dinge in der wissenschaftlichen Medien- und Rezeptionsforschung kann knapp zusammenfassend festgestellt werden, daß ein Mangel an konsistenten Aussagen über die offenbar äußerst komplexen Funktions- und Wirkungszusammenhänge von Massenmedien vorliegt. Es gibt eine Fülle von Untersuchungen über die Relevanz einzelner Variablen, jedoch fehlen umfassende Theoriekonzepte, die die vorliegenden Ansätze zu Reizvariablen, Situationsvariablen und dispositionellen Variablen untereinander verbinden.

Wenn Bill Gates aussagt, er interessiere sich nicht für die herkömmlichen Medien, für ihn seien nur die interaktiven Medien neu und spannend, dann ist dies als Hinweis darauf zu werten, daß die Computerisierung der Alltagswelt auch die Medienlandschaft beeinflussen wird (Gates, 1997). Interaktive Medien oder Hypermedien, diese Begriffe werden wechselseitig verwendet, stellen sich als elektronische Dokumente dar, und zwar als genau diejenigen, die über sogenannte Hyperlinks verfügen. Diese Hyperlinks verbinden elektronische Dokumente innerhalb durchstrukturierter Hypermediasysteme (jede nur vorstellbare Information kann repräsentiert werden, sobald sie digitalisiert vorliegt). Dadurch werden definierte Stellen funktional verknüpft und ein dialogischer Umgang mit den einzelnen Teilen der Basen ermöglicht. Genau dieser Dialogbetrieb macht Hypermedien interessant. Während es bei Multimedia ausschließlich um die synchrone Kopplung von Schrift, Klang, Bild oder Bewegtbild geht, geht es bei Hypermedien darüber hinaus um die synchrone Vernetzung elektronischer Dokumente. Der dialogische Umgang mit vernetzter Information ist neu und unterscheidet Hypermedien von allen anderen Medien. Diese Möglichkeit gibt es bei den herkömmlichen Medien nicht. Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Fernsehen, Hörfunk und Filme, bieten den Stoff in aller Regel diachron in Form von fixierten Sequenzen an. Genau diese lineare Orientierung an der Zeitachse kann - muß aber nicht - bei Hypermedien umgangen werden. Das heißt beispielsweise, daß wir nicht mehr einschalten müssen, wenn ein Programm kommt, sondern wir können uns ein Programm selber suchen. Mehr noch - wir können sogar die Feinstruktur des gewählten Programmes modifizieren. Diese Merkmale, die Suche nach gespeichertem Stoff (Selektion) und der dynamische Umgang mit gespeichertem Stoff in dialogischer Form (Kompilation) kennzeichnen Hypermedien.

Lokale Hypermediasysteme finden seit geraumer Zeit als Lehr- /Lernmedien vor allem in der betrieblichen Fort- und Weiterbildung Anwendung (zumeist mit CD-ROM als Massenspeicher). Populär wurden Hypermediasysteme durch das auf dem weltweiten Rechnerverbund Internet basierende offene Publikationssystem "World Wide Web" (WWW), das vom europäischen Zentrum für Teilchenphysik (CERN) 1992 etabliert wurde. Ein organisiertes wissenschaftliches Interesse an dem Thema interaktive Medien ist erst ab dem Jahr 1987 zu registrieren, da der technische Stand der Informations- und Kommunikationstechnologien erst zu diesem Zeitpunkt eine adäquate Umsetzung der bereits in den 30er Jahren entwickelten Grundideen erlaubte (vgl. Kuhlen, 1990; Meyer, in Druck). Eine systematische psychologische Grundlagenforschung und die Entwicklung einer personen-bezogenen Rezeptionsforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Eine diesbezügliche Bestandsaufnahme bietet der Sammelband von McKnight, Dillon und Richardson (1993) und die aktuelle Arbeit von Gerdes (1997). Insbesondere ist die in der Allgemeinen Psychologie seit Jahrzehnten betriebene Aufmerksamkeitsforschung (Neumann & Sanders, 1996) noch nicht mit der Rezeption von interaktiven Medienangeboten in Zusammenhang gesehen worden. Hier gilt es, originär medienpsychologische Theorieentwicklung zu betreiben und nicht nur theoretische Bruchstücke aus der Allgemeinen Psychologie zu importieren.

Literatur

Gates, B. (1997). "Sie können auch abschalten". Bill Gates im Spiegel-Gespräch, Der Spiegel, Heft 8/97 - 17.2.97, S. 94.
Gerdes, H. (1997). Lernen mit Hypertext. Lengerich: Pabst.
Kuhlen, R. (1991). Hypertext. Ein nicht lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. Berlin: Springer.
McKnight, C., Dillon, A. & Richardson, J. (Ed.) (1993). Hypertext. A psychological perspective. New York: Ellis Horwood.
Meyer, H.A. (in Druck). Von Punkt zu Punkt. Skizzen zu einer Theorie der interaktiven Medien. In W. Noeth & K. Wenz (Hrsg.). Reden über Medien (Reihe Intervalle - Schriften des WZ II, Band 2).
Neumann, O. (1992). Theorien der Aufmerksamkeit: von Metaphern zu Mechanismen. Psychologische Rundschau, 43, 83-101.
Neumann, O. & Sanders, A.F. (Hrsg.) (1996). Aufmerksamkeit (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie II, Band 2). Göttingen: Hogrefe.
Sturm, H. (1975). Die kurzzeitigen Angebotsmuster des Fernsehens. Fernsehen und Bildung, Internationale Zeitschrift für Medienpsychologie und Medienpraxis, 1, 39-50.

aus dem ZFF-Projektantrag

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19Aug99