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  Herbert A. Meyer

Psychologische Untersuchungen zur Navigation innerhalb komplexer Informationssysteme

Zielsetzung des Projektes war es, allgemeinpsychologische Erkenntnisse für das Verständnis von Navigations-, Orientierungs- und Entscheidungsprozessen in komplexen Informationssystemen nutzbar zu machen. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Unterscheidung von Mikro- und Makroprozessen bei der Navigation. Auf der Mikroebene ging es darum, Determinanten für das konkrete Entscheidungsverhalten beim Verarbeiten eines Hypertextes zu beschreiben, die Makroperspektive fokussierte die Analyse und Beinflussung übergeordneter Determinanten des Orientierungsverhaltens.

Unter Nutzung einer projektintern erzeugten Untersuchungstechnik (online-Experimente) konnten vielfältige Ergebnisse zum Entscheidungsverhalten in hypertextartigen Informationssystemen erarbeitet werden. Es wurde systematisch untersucht, wie die Entscheidungen eines Informationssuchers in einem Informationssystem beeinflußt werden können. Dabei wurde davon ausgegangen - stellvertretend auch für andere psychologische Effekte beim Entscheiden und Urteilen -, daß Entscheidungsverhalten beim Navigieren in offenen Informationssystemen durch priming-Effekte, das satisficing-Prinzip und den regret-Effekt erklärt werden kann.

Priming- bzw. Wiederholungseffekte und insbesondere der mere exposure-Effekt besagen, daß wiederholte Information gegenüber nicht wiederholter Information unter sonst gleichen Bedingungen bevorzugt verarbeitet wird. Das satisficing-Prinzip bzw. der "Kompatibilitätstest" behaupten, daß sich Individuen für die Handlungsmöglichkeit entscheiden, die den momentanen Zielen entspricht; wobei jedoch nur auf den wichtigen Zieldimensionen bestimmte Standards erfüllt werden müssen, ohne daß nach der optimalen Entscheidung gestrebt wird. Der regret-Effekt postuliert, daß Entscheider das antizipierte Bedauern minimieren wollen.

Während der Recherchearbeiten über Möglichkeiten zur empirischen Realisierung der Fragestellungen wurde deutlich, daß experimentelle Untersuchungen innerhalb offener Rechnernetze, in denen Navigation in Informationssystemen bereits aktuell stattfindet, eine extern valide und ökonomische Methode darstellen, um extern valides Navigationsverhalten zu untersuchen. Insbesondere das offene Hypertextsystem World Wide Web (WWW) bot sich für experimentelle Untersuchungen an. Als Untersuchungstechnik wurde ein indirektes Verfahren entwickelt, das die externe Validität der untersuchten Navigationsvorgänge gewährleistete und die Teilnahme anonymer Probanden erlaubte (online-Experimente mit verdeckter Messung). Für die Versuchsdurchführung wurde ein experimenteller Server eingesetzt, der über sog. CGI-Skripte den Versuchsablauf dynamisch steuerte. Für die inhaltliche Gestaltung des Experimente nutzten wir die Reformulierung eines sogenannten Icon-Archivs, das eine studentische Hilfskraft unserer Arbeitsgruppe Anfang 1995 innerhalb des WWW eingeführt hatte. Das Archiv verzeichnet in Spitzenzeiten monatlich ca. 1000 Besucher. Die Experimente wurden unauffällig in dieses Archiv eingebettet.

Zur Untersuchung der Fragestellungen wurde eine Serie von Experimenten mit insgesamt mehr als 1000 WWW-Anwender durchgeführt. Die fruchtbarsten Ergebnisse ergaben sich bei der Prüfung der aus gedächtnispsychologischen Annahmen abgeleiteten Hypothese, daß die wiederholte Darbietung eines Reizes verhaltenswirksam sein sollte. Es zeigte sich, daß sich der bekannte psychologische Effekt im WWW als verdecktes Feldexperiment replizieren läßt und dies belegt eine bedingte Eignung dieses Mediums zur Untersuchung auch innovativerer Fragestellungen. Die Vorhersage, daß die Anbahnung von Items das Abbruchkriterium der Informationssucher verändern sollte, konnte sich hingegen nicht bewähren. Auch die Beeinflussung der Suchtiefe beim Informationsabruf durch die Manipulation der Verfügbarkeit des Informationssystems konnte im Rahmen unserer Untersuchungen experimentell nicht nachgewiesen werden. Wenn das Verhalten der Informationssucher nicht oder nur unzureichend durch Mikro-Prozesse der genannten Art erklärt werden kann, stellt sich die Frage, welche anderen, wahrscheinlich komplexeren psychologischen Prozesse das Verhalten bestimmen. In diesem Zusammenhang muß die Makroperspektive weiter ausgearbeitet werden. So sollte die Frage untersucht werden, ob das Navigieren durch relativ übergeordnete und relativ situationsunabhängige Navigationsroutinen bestimmt wird, die von Situationsmomenten, wie sie in unseren bisherigen Mikrountersuchungen auftauchen, kaum beeinflußt werden können.

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das verdeckte Experimentieren im World Wide Web stellt eine äußerst ökonomische Methode dar. Gerade bei grundlagenwissenschaftlich-orientierten allgemeinpsychologischen Fragestellungen, bei denen die Art der Stichprobe eine nachrangige Rolle spielt, können aus Webexperimenten valide und lebensnahe Rückschlüsse gezogen werden. Im Zweifelsfall sollten datenschutzrechtliche Maßnahmen getroffen werden, die die datentechnischen Möglichkeiten des WWW einschränken, um berechtigte Sicherheitsbedürfnisse der Anwender nicht zu gefährden.

  • Hänze, M., Hildebrandt, M. & Meyer, H.A. (eingereicht). Feldexperimente im World Wide Web: Zur Verhaltenswirksamkeit des "mere-exposure"-Effekts bei der Informationssuche.
  • Hänze, M. & Meyer, H.A. (1997). Feldexperimente und nicht-reaktive Messung im World Wide Web. In D. Janetzko, B. Batinic, D. Schoder, M. Mattingley-Scott. & G. Strube (Hrsg.). CAW-97. Beiträge zum Workshop "Cognition & Web" (S. 79-92). Freiburg: IIG-Berichte.
  • Meyer, H.A. (1997). Handicap Hypertext? Skizzen zur Theorie und Vorgeschichte des World Wide Web. In D. Janetzko, B. Batinic, D. Schoder, M. Mattingley-Scott. & G. Strube (Hrsg.). CAW-97. Beiträge zum Workshop "Cognition & Web" (S. 119-140). Freiburg: IIG-Berichte.
  • Meyer, H.A. & Hänze, M. (1997). Feldexperimente im WWW: Möglichkeiten und Grenzen. Vortrag im Rahmen der Diskussionsveranstaltung "Internet und Psychologie" während der 39. Tagung experimentell arbeitender Psychologen, Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Meyer, H.A. & Hänze, M. (1996). Psychologische Untersuchungen zur Navigation innerhalb komplexer Informationssysteme: Orientierung und Entscheidung in Hypertexten. In H. Mandl, M. Henninger, H.-P. Klein, S. Bruckmoser, & P. Gotzler, KONPro. Abstracts des "40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie" auf zwei Disketten. Schwerpunktthema: Wissen und Handeln. München: Ludwig-Maximilians-Universität München.
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