Zielsetzung des Projektes war es, allgemeinpsychologische
Erkenntnisse für das Verständnis von Navigations-,
Orientierungs- und Entscheidungsprozessen in komplexen
Informationssystemen nutzbar zu machen. Ausgangspunkt der
Überlegungen war die Unterscheidung von Mikro- und
Makroprozessen bei der Navigation. Auf der Mikroebene ging
es darum, Determinanten für das konkrete
Entscheidungsverhalten beim Verarbeiten eines Hypertextes
zu beschreiben, die Makroperspektive fokussierte die
Analyse und Beinflussung übergeordneter Determinanten
des Orientierungsverhaltens.
Unter Nutzung einer
projektintern erzeugten Untersuchungstechnik
(online-Experimente) konnten vielfältige
Ergebnisse zum Entscheidungsverhalten in hypertextartigen
Informationssystemen erarbeitet werden. Es wurde
systematisch untersucht, wie die Entscheidungen eines
Informationssuchers in einem Informationssystem
beeinflußt werden können. Dabei wurde davon
ausgegangen - stellvertretend auch für andere
psychologische Effekte beim Entscheiden und Urteilen -,
daß Entscheidungsverhalten beim Navigieren in offenen
Informationssystemen durch priming-Effekte, das
satisficing-Prinzip und den regret-Effekt
erklärt werden kann.
Priming- bzw. Wiederholungseffekte und insbesondere
der mere exposure-Effekt besagen, daß
wiederholte Information gegenüber nicht wiederholter
Information unter sonst gleichen Bedingungen bevorzugt
verarbeitet wird. Das satisficing-Prinzip bzw. der
"Kompatibilitätstest" behaupten, daß
sich Individuen für die Handlungsmöglichkeit
entscheiden, die den momentanen Zielen entspricht; wobei
jedoch nur auf den wichtigen Zieldimensionen bestimmte
Standards erfüllt werden müssen, ohne daß
nach der optimalen Entscheidung gestrebt wird. Der
regret-Effekt postuliert, daß Entscheider das
antizipierte Bedauern minimieren wollen.
Während der Recherchearbeiten über
Möglichkeiten zur empirischen Realisierung der
Fragestellungen wurde deutlich, daß experimentelle
Untersuchungen innerhalb offener Rechnernetze, in denen
Navigation in Informationssystemen bereits aktuell
stattfindet, eine extern valide und ökonomische
Methode darstellen, um extern valides Navigationsverhalten
zu untersuchen. Insbesondere das offene Hypertextsystem
World Wide Web (WWW) bot sich für
experimentelle Untersuchungen an. Als Untersuchungstechnik
wurde ein indirektes Verfahren entwickelt, das die externe
Validität der untersuchten Navigationsvorgänge
gewährleistete und die Teilnahme anonymer Probanden
erlaubte (online-Experimente mit verdeckter Messung).
Für die Versuchsdurchführung wurde ein
experimenteller Server eingesetzt, der über sog.
CGI-Skripte den Versuchsablauf dynamisch steuerte. Für die
inhaltliche Gestaltung des Experimente nutzten wir die
Reformulierung eines sogenannten Icon-Archivs, das eine
studentische Hilfskraft unserer Arbeitsgruppe Anfang 1995
innerhalb des WWW eingeführt hatte. Das Archiv
verzeichnet in Spitzenzeiten monatlich ca. 1000 Besucher.
Die Experimente wurden unauffällig in dieses Archiv
eingebettet.
Zur Untersuchung der Fragestellungen wurde eine Serie
von Experimenten mit insgesamt mehr als 1000 WWW-Anwender
durchgeführt. Die fruchtbarsten Ergebnisse ergaben
sich bei der Prüfung der aus
gedächtnispsychologischen Annahmen abgeleiteten
Hypothese, daß die wiederholte Darbietung eines
Reizes verhaltenswirksam sein sollte. Es zeigte sich,
daß sich der bekannte psychologische Effekt im WWW
als verdecktes Feldexperiment replizieren läßt
und dies belegt eine bedingte Eignung dieses Mediums zur
Untersuchung auch innovativerer Fragestellungen. Die
Vorhersage, daß die Anbahnung von Items das
Abbruchkriterium der Informationssucher verändern
sollte, konnte sich hingegen nicht bewähren. Auch die
Beeinflussung der Suchtiefe beim Informationsabruf durch
die Manipulation der Verfügbarkeit des
Informationssystems konnte im Rahmen unserer Untersuchungen
experimentell nicht nachgewiesen werden.
Wenn das Verhalten der Informationssucher nicht oder
nur unzureichend durch Mikro-Prozesse der genannten Art
erklärt werden kann, stellt sich die Frage, welche
anderen, wahrscheinlich komplexeren psychologischen
Prozesse das Verhalten bestimmen. In diesem Zusammenhang
muß die Makroperspektive weiter ausgearbeitet werden.
So sollte die Frage untersucht werden, ob das Navigieren
durch relativ übergeordnete und relativ
situationsunabhängige Navigationsroutinen bestimmt
wird, die von Situationsmomenten, wie sie in unseren
bisherigen Mikrountersuchungen auftauchen, kaum
beeinflußt werden können.
Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das
verdeckte Experimentieren im World Wide Web stellt eine
äußerst ökonomische Methode dar. Gerade bei
grundlagenwissenschaftlich-orientierten
allgemeinpsychologischen Fragestellungen, bei denen die Art
der Stichprobe eine nachrangige Rolle spielt, können
aus Webexperimenten valide und lebensnahe
Rückschlüsse gezogen werden. Im Zweifelsfall
sollten datenschutzrechtliche Maßnahmen getroffen
werden, die die datentechnischen Möglichkeiten des WWW
einschränken, um berechtigte
Sicherheitsbedürfnisse der Anwender nicht zu
gefährden.
Hänze, M., Hildebrandt, M. & Meyer, H.A. (eingereicht).
Feldexperimente im World Wide Web: Zur
Verhaltenswirksamkeit des "mere-exposure"-Effekts bei der
Informationssuche.
Hänze, M. & Meyer, H.A. (1997). Feldexperimente und
nicht-reaktive Messung im World Wide Web. In D. Janetzko, B. Batinic, D.
Schoder, M. Mattingley-Scott. & G. Strube (Hrsg.). CAW-97.
Beiträge zum Workshop "Cognition & Web" (S. 79-92).
Freiburg: IIG-Berichte.
Meyer, H.A. (1997). Handicap Hypertext? Skizzen zur Theorie und
Vorgeschichte des World Wide Web. In D. Janetzko, B. Batinic, D.
Schoder, M. Mattingley-Scott. & G. Strube (Hrsg.). CAW-97.
Beiträge zum Workshop "Cognition & Web" (S.
119-140). Freiburg: IIG-Berichte.
Meyer, H.A. & Hänze, M. (1997). Feldexperimente im WWW: Möglichkeiten
und Grenzen. Vortrag im Rahmen der Diskussionsveranstaltung "Internet und Psychologie"
während der 39. Tagung experimentell arbeitender Psychologen, Humboldt-Universität zu Berlin.
Meyer, H.A. & Hänze, M. (1996). Psychologische Untersuchungen zur Navigation innerhalb komplexer Informationssysteme: Orientierung und Entscheidung in Hypertexten.
In H. Mandl, M. Henninger, H.-P. Klein, S. Bruckmoser, & P. Gotzler, KONPro. Abstracts des "40.
Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie" auf zwei Disketten. Schwerpunktthema:
Wissen und Handeln. München: Ludwig-Maximilians-Universität München.